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Publicly Available Published by De Gruyter October 11, 2018

Entscheidung für das, was ohnehin ist

Derridas différance als Spielart eines ontologischen Dezisionismus

  • Alex Gruber EMAIL logo

Zusammenfassung

Jacques Derrida beschäftigte sich zeitlebens mit den Fragenstellungen politischer Theologie, wie nicht nur anhand seiner späten Monographie zu Carl Schmitt ersichtlich wird. Auch in seinen stärker unmittelbar politischen Ausführungen spielen diese Überlegungen eine zentrale Rolle. Der Aufsatz stellt die Schmitt-Rezeption und -Kritik Jacques Derridas dar, und wie sich diese Auseinandersetzung im Gerechtigkeitsbegriff niederschlägt, der für das Spätwerk dieselbe Bedeutung erlangt wie die différance für die Frühphase. Die Grundthese dabei lautet, dass die explizite Hinwendung zu Carl Schmitt der theoretischen Konstruktion Derridas und ihren Widersprüchen geschuldet ist, wie sie zugleich jene mythischen Lösungsversuche zeitigte, von denen nicht zuletzt der Gerechtigkeitsbegriff Auskunft gibt.

Abstract

As demonstrated not only by his late monograph on Carl Schmitt, Jacques Derrida grappled with issues of political theology throughout his career. These considerations played a crucial role even in his more directly political statements. In this essay, I discuss Derrida’s reception and critique of Carl Schmitt and the imprint it left on his concept of justice, a concept, which was as significant to his later work as the concept of différance was to his earlier endeavours. My basic contention is that Derrida’s explicit recourse to Carl Schmitt sprang from his theoretical framework and the contradictions within it. Conversely, it generated the mythological prescriptions, which are evident, not least, in his concept of justice.

Am 27. Mai 2003 diskutierte Jacques Derrida im Rahmen der Abschlusssitzung des vom Institut du monde arabe in Paris veranstalteten Kolloquiums „Algerien-Frankreich. Hommage an die großen Gestalten des Dialogs der Kulturen“ mit dem algerischen Philosophen Mustapha Chérif über „Die Zukunft der Zivilisationen und das Verhältnis zwischen dem Islam und dem Westen“. Im Rahmen dieser Diskussion beklagte Chérif, dass die Verirrung des Westens darin bestünde, sich durch überzogene Subjektivität von der „Abwesenheit/Anwesenheit des Wahren“, welche die „Glaubenswesen“ Gott nennen (Chérif 2009, S. 104 f.), abzuwenden und allein der weltlichen Vernunft zu frönen. Dagegen gelte es, daran festzuhalten, dass sich das Leben als „Existenz [...] in Form des Mysteriums [präsentiert], des Offenen, das sich im Entzug zurückhält, das sich entzieht und verlangt, als solches angenommen zu werden“ (Chérif 2009, S. 65). Der Islam, so Chérif weiter, verstehe sich demgemäß „als Engagement im Hinblick auf das Mysterium, als Treue zur offenbarten Botschaft“: die „Beziehung zum Mysterium“ finde sich in „zahlreichen Grundorientierungen bestätigt“, die „im Gedächtnis der Muslime fest verankert sind“ (Chérif 2009, S. 65 f.). Chérif interpretierte Jacques Derridas Theorie der différance also als eine politische Theologie – und gab ihr in einem nächsten Schritt den Namen Islam.

Derrida widersprach Chérifs Interpretation dann bloß in diesem zweiten Schritt: Gegen die grundsätzliche Charakterisierung der Dekonstruktion als politische Theologie hatte er nichts einzuwenden, lediglich deren nachträgliche ‚Reduzierung‘ auf eine Onto-Theologie – also ihre Rückbindung an einen bestimmten Gott – wollte er nicht gelten lassen. Dementsprechend plädierte Derrida dafür, die „Momente vertrauenden Glaubens“ (Chérif 2009, S. 88) nicht an eine bestimmte Religion, ein bestimmtes Idiom oder eine bestimmte Territorialität zu binden. Vielmehr gelte es das, was Chérif Mysterium nennt, im Sinne eines universellen Kommenden zu denken, um so „für Offenheit zu sorgen und Abschließung zu verhindern“ (Chérif 2009 S. 85 f.). Der hier zum Ausdruck kommende Versuch, an die Fragen der politischen Theologie anzuschließen und gleichzeitig über die inhaltliche Bestimmtheit ihrer Antworten hinauszugehen, prägt denn auch Derridas theoretisches Werk, im Rahmen dessen er sich auch explizit mit jenem Denker auseinandergesetzt hat, der wie kein anderer mit dem Begriff der politischen Theologie verbunden wird.

Carl Schmitts Entscheidungsbegriff als autoritäre Kritik des Liberalismus

In seiner Schrift „Politik der Freundschaft“ charakterisiert Jacques Derrida den faschistischen Staatsrechtler Carl Schmitt als „letzten großen Vertreter der europäischen Metaphysik der Politik.“ (Derrida 2002, S. 333) Derrida würdigt an Schmitts Begriff des Politischen die zentrale Stellung, die die Entscheidung darin einnimmt, was für einen als subjektkritisch geltenden Autor auf den ersten Blick verwunderlich erscheinen mag. Mittels dieses Entscheidungsbegriffs, so Derrida, versuche Schmitt hinauszugelangen aus dem festgefügten Gehäuse des modernen Denkens samt seinen metaphysischen Gewissheiten, die kein Neues zuließen. Dabei, so die zugleich formulierte Kritik, verfolge Schmitt die Konsequenzen seines eigenen Denkens aber nicht bis in die letzten Details, sondern biege sie gewissermaßen auf den Boden der modernen Gesellschaft zurück, womit er selbst wiederum zu einem Vertreter jener Metaphysik werde, die er doch eigentlich in den kritischen Fokus seines Denkens gerückt habe. Diese Rückkehr zum zuvor noch kritisierten Denken sei über Schmitts Begriff des Subjekts vermittelt, das die Entscheidung selbstbewusst vollziehen könne. So führe Schmitt erneut jene feste Kategorie ein, die doch zugunsten des Neuen und Offenen überwunden werden sollte.

Konkret äußere sich Carl Schmitts Metaphysik darin, dass er – mit dem Subjekt als festem Boden der Entscheidung – einen vorpolitischen und damit außerhalb der (politischen) Ordnung liegenden, ihr transzendenten Ort einzunehmen versuche, den es jedoch gemäß seiner eigenen Theorie von der Ubiquität des Politischen gerade nicht gebe.

Schmitt schlägt im Grunde eine Deduktion des Politischen als solchem vor, die von einem Ort verfährt, an dem es das Politische noch nicht gibt. Zwischen dem Ursprünglichen und dem Abgeleiteten muß der Gegensatz strikt und bündig sein [...]. [D]as Paradox und das Interesse der von Schmitt unternommenen Anstrengung liegt ja nicht zuletzt in der Sturheit, mit der er die klassischen oppositionellen Unterscheidungen in eben dem Augenblick festhalten, restaurieren, rekonstruieren, retten oder verfeinern will, in dem seine Aufmerksamkeit für eine bestimmte Modernität [...] ihn zu der Einsicht zwingt, daß die grundlegenden Unterscheidungen (als metaphysische, theologisch-politische, sagen wir lieber onto-theologische Unterscheidungen) sich verwischen. (Derrida 2002, S. 332 f.)

Es ist ganz allgemein die Annahme von ausdrücklichen Unterscheidungen, wie etwa die von Freund und Feind, die Derrida hier gegen Schmitt ins Feld führt. An letzterer kritisiert er weniger die ihr – ob ihrer inhaltlichen Leere – innewohnende Willkür als vielmehr Schmitts Ansinnen, bestimmte Unterscheidungen überhaupt treffen zu wollen (vgl. Derrida 2002, S. 93). Derridas Kritik wendet sich genau dort gegen Schmitts politische Theologie, wo diese noch ein Bewusstsein von Widersprüchen und Antagonismen zu enthalten scheint (vgl. Scheit 2018, S. 90) – auch wenn Schmitt diese Antagonismen nicht kritisch reflektiert, sondern sich qua Entscheidung positiv anzueignen trachtet. Die so gestiftete Ordnung macht Derrida Schmitt nun wiederum zum Vorwurf, da er mit ihr die prinzipiell unabschließbare Bewegung der Entscheidung doch abzuschließen und in einer Einheit stillzustellen trachte. Diese Wendung mag vordergründig an die Hegelrezeption Adornos erinnern, die ebenfalls eine Stillstellung zum Thema hat: die der Dialektik bei Hegel. Adornos Argument ist jedoch der Kritik der falschen, weil erschlichenen Versöhnung von Begriff und Sache geschuldet, um so die Sache, die Hegel in der Angleichung an den Begriff verfehlte, doch noch erkennend aufzuschlüsseln (vgl. Adorno 1997, S 21). Derrida dagegen zielt in seiner Schmitt-Kritik auf anderes ab: auf die Desavouierung von bestimmter Negation im Namen des „Unentscheidbare[n]“ (Derrida 2002, S. 22).

Es ist die von Schmitt behauptete Möglichkeit einer in sich stimmigen Unterscheidung, die Derrida ihm als Rückfall ins geschlossene Denken der metaphysischen Gewissheiten vorwirft. Trotzdem könne in Auseinandersetzung mit Schmitts Theorie die Bedeutung der Entscheidung für einen angemessenen Begriff des Politischen aufgezeigt werden: die Bedeutung einer richtig verstandenen Entscheidung nämlich, die die seiende Ordnung offenhalte und nicht in einem apolitischen Ort stillstelle, an dem sich kein Einbruch des Unvorhergesehenen mehr ereignen könne. Nur ein Denken, das solch ein unvorhersehbares Ereignis nicht ausschließe, sondern es vielmehr zu seinem innersten Moment mache, könne für sich in Anspruch nehmen, eine adäquate Theorie des Politischen zu formulieren. Im Anschluss an Schmitt müsse dessen Theorie also zugleich radikalisiert werden, insofern sie das Politische noch mittels seines auf Schließung zielenden Entscheidungsbegriffs neutralisiere und so letzten Endes entpolitisiere; eine „Entpolitisierung“, die nichts anderes sei als „die Wahrheit eines metaphysischen Begriffs des Politischen, der sich in ihr vollendet.“ (Derrida 2002, S. 333)

In diesem Einwand führt Derrida schließlich Carl Schmitt gegen ihn selbst ins Feld. In seiner 1922 in Erstauflage erschienenen Schrift „Politische Theologie“ kritisiert Carl Schmitt nämlich selbst jene auch von Derrida konstatierte Neutralisierung und Entpolitisierung des Politischen. Er macht die Wurzel dafür nicht zuletzt in der rechtsstaatlichen Tradition und Verfahrensweise aus, die die souveräne Entscheidung zugunsten „der sachlichen Geltung einer abstrakten Norm“ (Schmitt 2004 a, S. 36) zurückdränge. Doch sei die solcherart herbeigeführte Stillstellung des Politischen in einem System abstrakt-allgemeiner Rechtsbegriffe zugleich eine Ordnung, die sich selbst der Lüge überführe und damit auch als solche kenntlich gemacht werden könne. Sobald nämlich „das Politische als das Totale erkannt“ sei, läge auch die Erkenntnis nahe, dass selbst noch „die Entscheidung darüber, ob etwas unpolitisch ist, immer eine politische Entscheidung bedeutet, gleichgültig wer sie trifft und mit welchen Beweisgründen sie sich umkleidet.“ (Schmitt 2004 b, S. 7) Die jedweder Ordnung notwendig zugrundeliegende Entscheidung könne bloß oberflächlich unterdrückt werden, subkutan setze sie sich jedoch immer wieder durch. Selbst noch in der Entscheidung, die Entscheidung und mit ihr die Entscheidungsgewalt, sprich: Souveränität zu verdrängen, um so das Politische durch rechtsstaatliche Verfahrensweisen einzuhegen und stillzustellen, erscheine sie entgegen der eigenen Intention doch wieder nur aufs Neue.

Die durch Normen und Gesetze gekennzeichnete Verfahrensweise präge ein grundlegendes Problem, das von und in ihr nicht aufzuheben sei – und so immer über sie hinausweise. Dieses Problem, so Schmitt, bestehe in der Tatsache, dass durch die Rechtsprechung ein „konkretes Faktum konkret beurteilt werden muß“, während zugleich „als Maßstab der Beurteilung nur ein rechtliches Prinzip in seiner generellen Allgemeinheit gegeben ist.“ (Schmitt 2004 a, S. 37) Der daraus notwendig folgenden Subsumtionsleistung, die im Urteilsspruch den konkreten Einzelfall der allgemeinen Norm unterstelle, sei also immer eine „Transformation“ inhärent: Die idealiter herrschende Reinheit der Rechtsidee müsse, um Realität werden zu können, ihre Abstraktheit aufgeben und in einen „anderen Aggregatzustand“ (Schmitt 2004 b, S. 36) übergehen. Um diese Transformation vonstattengehen zu lassen, müsse der Rechtsidee ein neues Moment hinzugefügt werden, das nicht in ihr selbst beschlossen liege und sich so auch nicht aus dem Inhalt der kodifizierten Norm ablesen lasse.

Jede konkrete juristische Entscheidung enthält ein Moment inhaltlicher Indifferenz, weil der juristische Schluß nicht bis zum letzten Rest aus seinen Prämissen ableitbar ist, und der Umstand, daß eine Entscheidung notwendig ist, ein selbständiges determinierendes Moment bleibt. [...] Von dem Inhalt der zugrundeliegenden Norm aus betrachtet, ist jenes konstitutive, spezifische Entscheidungsmoment etwas Neues und Fremdes. Die Entscheidung ist, normativ betrachtet, aus einem Nichts geboren. Die rechtliche Kraft der Dezision ist etwas anderes als das Resultat der Begründung. Es wird nicht mit Hilfe einer Norm zugerechnet, sondern umgekehrt; erst von einem Zurechnungspunkt aus bestimmt sich, was eine Norm und was normative Richtigkeit ist. (Schmitt 2004 a, S. 36–38)

Carl Schmitt kritisiert den liberalen Rechtsbegriff, der davon ausgeht, dass das Besondere in Form des einzelnen Rechtsfalls dem Allgemeinen in Form der allgemeinen Rechtsnorm bruchlos subsumierbar sei, dass also eine konfliktfreie Vermittlung der beiden Momente auf dem Boden der herrschenden Verhältnisse möglich sei. Schmitts autoritärer Antiliberalismus macht ihn zu einem hellhörigen Chronisten der Widersprüche liberaler und positivistischer Rechtsvorstellungen, die er zugunsten seiner politischen Krisenlösungsmodelle auszubeuten trachtet. In seiner Argumentation spiegelt sich die Tatsache wider, dass das liberale Rechtssystem nicht so geschlossen ist, wie es das von sich selbst annehmen muss (vgl. Neuman 1986, S. 106) – die Tatsache also, dass auch die liberale Gesellschaft der Gewalt des Souveräns nicht entbehren kann, die sie so gerne verdrängt (vgl. Scheit 2009). Doch kritisiert Schmitt diese Bedingung der Möglichkeit nicht, um in solcher Kritik den Gedanken gewaltfreier gesellschaftlicher Vermittlung gegen die herrschaftlich organisierte Realität zu wenden, im Gegenteil: Es geht ihm darum, diese Gewalt zum Eigentlichen und Substanziellen zu erklären, um sie aus ihren rechtlichen Einhegungen zu entbinden: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ (Schmitt 2004 a, S. 13) Wie jede andere Ordnung auch beruhe die Rechtsordnung auf einer souveränen Entscheidung und nicht auf einer Norm. Weil die Norm bloß das der Entscheidung nachgeordnete sei, sei auch die Ausnahme wichtiger als die Regel, die von dieser Ausnahme lebe: „Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles“ (Schmitt 2004 a, S. 21).

Die liberale Idee vom Recht als Gewalt aufhebender Verkehrsform stellt eine ideologische Vorstellung dar, insofern die Gewalt im Recht nicht abgeschafft, sondern immer nur vermittelt ist, wie sich nicht zuletzt an deren Delegierung an den Staat zeigt, dem das Monopol der Gewaltausübung übertragen wird. Dass eine solche Vermittlung zweifellos einen zivilisatorischen Fortschritt gegenüber unmittelbarer Gewaltanwendung bildet, bedeutet jedoch nicht, dass die soziale Synthesis nicht mehr auf Gewalt beruhe, die die krisenhafte Einheit von Einzelnem und gesellschaftlichem Allgemeinem zu stiften und zu garantieren hat. Exakt diese einheits- oder ordnungsstiftende Funktion im Zerfall ist es, um deren Rettung es Schmitt zu tun ist. Fern davon, den gesellschaftlich vermittelten Widerspruch zwischen Allgemeinem und Besonderem kritisieren zu wollen, hypostasiert Schmitt ihn denn auch und versucht so zugleich, ihm per Handstreich zu entkommen. Dies soll mittels der Entscheidung gelingen, durch die er glaubt, die konkrete Wirklichkeit direkt zur Geltung bringen und unmittelbar an die Hand bekommen zu können.

Die Entscheidung macht sich frei von jeder normativen Gebundenheit und wird im eigentlichen Sinne absolut. [...] Die Ausnahme ist das nicht Subsumierbare; sie entzieht sich der generellen Fassung, aber gleichzeitig offenbart sie ein spezifisch-juristisches Formelement, die Dezision in absoluter Reinheit. [...] Gerade eine Philosophie des konkreten Lebens darf sich vor der Ausnahme und vor dem extremen Falle nicht zurückziehen, sondern muß sich im höchsten Maße für ihn interessieren. [...] In der Ausnahme durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik. (Schmitt 2004 a, S. 18–21)

Carl Schmitt fasst das liberale Recht und seine Normen als „leere[.] und gespenstische[.] Abstraktionen“ (Schmitt 2009, S. 29), die der konkreten Unmittelbarkeit des Lebens nicht gerecht werden könnten, weswegen die rechtsstaatliche Anwendung der Normen durch die Entscheidung zu ersetzen sei. Das vermeintlich rettende Instrument der subjektiven Entscheidung wird als jenes tätige Moment gefasst, das den Ausgang ermögliche aus der modernen, mechanischen, abstrakt-allgemeinen Seinsordnung in eine, die der unmittelbar konkret gedachten menschlichen Existenz entspreche.[1]

Derridas Versuch, Carl Schmitts Entscheidungsbegriff zu entsubjektivieren

Etwas von der Unwahrheit, die darin liegt, dass sich bei Schmitt das Moment der Subjektivität zum Absoluten aufbläht, erkannt zu haben, zugleich aber an dessen politischer Theologie festzuhalten: das macht die Denkbewegung Derridas aus, die ihn letzten Endes über Schmitt hinaus an die Seite Martin Heideggers führen wird. Dem, ebenso wie Schmitt der deutschen Gegenaufklärung zuzurechnenden, Denker des Seins nämlich, so die Argumentation Derridas, sei es nachhaltiger gelungen, die Sphäre des Subjektivismus hinter sich zu lassen als dem Theoretiker des Dezisionismus – der aber, so muss man Derridas Interesse wohl deuten, einen entscheidenden Schritt auf dem Weg dorthin geleistet habe.

Schmitts Argumentation aufgreifend und von der Urteilsfindung auf die Begriffsbildung insgesamt ausweitend, nimmt denn auch Derrida an, dass die Realität durch ein überschießendes Moment gekennzeichnet sei, das in und aufgrund seiner radikalen Andersheit nicht mittels eines Allgemeinen dargestellt oder repräsentiert werden könne.

Da das Sprechen an die Struktur der Sprache gebunden ist, ist es [...] einer gewissen Allgemeinheit, einer gewissen Iterierbarkeit, einer gewissen Wiederholbarkeit unterworfen und muss schon deswegen die Singularität des Ereignisses verfehlen. Zu den Merkmalen des Ereignisses gehört ja nicht nur die Unvorhersehbarkeit und damit die Tatsache, dass es den Gang der Geschichte unterbricht, sondern auch seine absolute Singularität. Also kann man sagen, dass das Sprechen vom Ereignis, die Mitteilung von Wissen über das Ereignis, die Singularität des Ereignisses in gewisser Weise a priori und immer schon verfehlt – durch die einfache Tatsache, dass das Sprechen zu spät kommt und die Singularität in der Generalität verliert. (Derrida 2003 b, S. 21)

Insofern für Derridas Verständnis von Realität als umfassendem Text der Richterspruch nur einen Sonderfall der Benennung allgemein darstellt, betrachtet er Gerichtsurteil und Begriff homolog, weswegen er genauso unvermittelt von ersterem auf letzteres schließen zu können glaubt wie umgekehrt von der Namensgebung auf das Recht. Das in Derridas „Grammatologie“ zum Ausdruck kommende Verständnis von absoluter Singularität, die durch die Allgemeinheit, welche die Sprache und ihre Begriffe notwendigerweise auszeichne, nicht einholbar sei (vgl. Derrida 2016, S. 197), führt denn auch dazu, dass er sich an anderer Stelle explizit Carl Schmitts Kritik am Recht zu eigen macht. Derridas Ausführungen in „Gesetzeskraft“ stellen eine, wenn schon nicht wortidentische, so doch sinngetreue Wiederholung der von Schmitt gegen die abstrakt-allgemeinen Rechtsformen ins Feld geführten Argumente dar (vgl. Derrida 1991, S. 35). Konsequenterweise kommt bei Derrida der Entscheidung die zentrale Rolle zu, den Mangel des Rechts ausgleichen zu können und zu müssen. Weil das Recht auf allgemeine Normen und Sätze angewiesen sei, in denen die zu beurteilende Einzigkeit aber nicht dargestellt und abgebildet werden könne, ohne zugleich deren Absolutheit zu neutralisieren, könne das Recht auch keine Gerechtigkeit sein.

Ersteres sei das „Element der Berechnung“, letztere sei unberechenbar: „sie erfordert, dass man mit dem Unberechenbaren rechnen“ müsse, was nur durch eine „Entscheidung zwischen dem Gerechten und dem Ungerechten“ möglich sei, „die von keiner Regel verbürgt und abgesichert sei.“ (Derrida 1991, S. 33.f.)[2] Damit der Richter nicht bloß „Rechenmaschine“ sei, die lediglich „codierte Regel[n]“ (Derrida 1991, S. 74) anwende, bedürfe es – wie bei Schmitt festgehalten – eines in der (Rechts‑)Ordnung selbst nicht kodifizierten, weil nicht kodifizierbaren Sprungs. Das Urteil dürfe keine bloße Applikation einer Rechtsvorschrift sein, sondern müsse ein Element der Überstürzung und der Stiftung enthalten, so als existierte die Vorschrift zuvor nicht und würde im Akt des Rechtsprechens erst erfunden. Um der unberechenbaren Gerechtigkeit Genüge zu tun, sei der Richter im Besonderen wie der Einzelne im Allgemeinen qua Entscheidung darauf verwiesen, die allgemeine Regel zu suspendieren. Er könne nicht weiter der Ordnung folgen und „einfach ein Programm entfalten“ (Derrida 2007, S. 39), sondern habe stattdessen eine Unterbrechung herbeizuführen, durch die ein neues und unbestimmtes Moment ins Spiel gebracht werde.

Der Augenblick der Entscheidung muß jedem Wissen als solchem, jeder theoretischen oder konstativen Bestimmung gegenüber heterogen bleiben, auch wenn jedes denkbare Wissen und Bewußtsein ihm vorangehen können und müssen. Letztere können den Sprung der Entscheidung nicht vorherbestimmen, ohne sie in die verantwortungslose Anwendung eines Programms zu verkehren, sie dessen zu berauben, was sie zu einer souveränen und freien Entscheidung macht, mit einem Wort: zu einer Entscheidung tout court. (Derrida 2002, S. 296)

Derrida, der doch darauf abzielt, das klassische Denken und dessen Subjektivismus zu erschüttern und zu öffnen, erweist sich hier als deren Erbe und konsequenter Fortführer. Sein Freiheitsbegriff ist so abstrakt-subjektiv konstruiert, wie nur jener der Tradition, gegen den er ihn zu wenden glaubt. Freiheit soll nicht die subjektiv vermittelte Verwirklichung der in der Sache schlummernden Potentiale sein, sondern die völlige Unabhängigkeit vom Objekt; dessen abstrakte Negation, der souverän gedachte Sprung aus aller Bestimmtheit. Was Derrida hier unter Souveränität versteht, ist – auch wenn er es schließlich gegen das Subjekt zu wenden gedenkt – die unreflektierte Verlängerung des gesellschaftlichen Individuationsprinzips: stur an sich festhaltendes Beharren auf der „Autarkie des Subjekts“ (Adorno 1997, S. 218),[3] dessen Freiheit im Bruch mit allem bestehe, was nicht es selbst ist. Selbst Wissen und Bewusstsein sollen den Sprung nicht vermitteln dürfen, da sie als Determinanten Unterminierung von Freiheit und Gerechtigkeit seien, die bei Derrida durch ihre absolute Unbestimmtheit mit absoluter Willkür zusammenfallen. Soll die Entscheidung souverän sein, kann und darf nicht ausgeführt werden, warum etwas aufgekündigt werden soll, Hauptsache, es wird aufgekündigt: Suspension um ihrer selbst willen. „Damit eine Entscheidung eine Entscheidung ist, muß sie das Programm unterbrechen oder mit ihm brechen, sie muß mit der einfachen Entwicklung oder Entfaltung einer Möglichkeit brechen. Darum ist eine Entscheidung das Unmögliche“ (Derrida 2007, S. 39 f.) – das dennoch getroffen werden müsse: „als Entscheidung im Unentscheidbaren und durch es hindurch.“ (Derrida 2002, S. 296)

Erneut ist es die laut Derrida nicht-repräsentierbare und damit unsagbare Andersheit, die hier ins Spiel kommt. Weil die Singularität derart radikal sei, dass sie durch den Allgemeinbegriff, dessen Sonderfall die rechtliche Norm nur darstelle, nicht eingeholt werden könne, stehe die Begrifflichkeit oder Normhaftigkeit, die doch gebildet werden müsse, wo Recht gesprochen oder auch nur Kommunikation betrieben werden soll, in keinem rational bestimmbaren Zusammenhang mit dem, was sie zu bestimmen vorgibt. Die Begriffe seien bloß „legitime Fiktion“ (Derrida 1991, S. 25) und als solche keine vermittelte Erscheinung eines Außerbegrifflichen, sondern gewaltsames Herbeizitieren von etwas, das eigentlich nicht oder doch nur in seiner Nichtvorhandenheit vorhanden sei. Derart aus der Nicht-Präsenz geschöpft, seien die Begriffe als Resultate „performative[r] Kraft (Gewalt)“ (Derrida 1991, S. 27) zu verstehen, die durch ihre Deutungen der nicht-repräsentierbaren Singularität erst jene spezifischen Charakteristika auferlegten, mittels derer diese Singularität dann als inhaltlich-bestimmte gesetzt würde. „Weil sie sich definitionsgemäß auf nichts anderes stützen können als auf sich selbst, sind der Ursprung der Autorität, die (Be)gründung oder der Grund des Gesetzes in sich selbst eine grund-lose Gewalt(tat).“ (Derrida 1991, S. 29)

Weil es nichts Festes gebe, sei alles Stiftung, so Derridas Conclusio aus seiner Schmittrezeption, die er schließlich gegen Schmitt selbst wendet, der seiner eigenen Erkenntnis nicht standgehalten habe. Indem er die kontingente Schöpfung aus dem Nichts an ein selbstbewusstes Subjekt zurückgebunden habe, habe er dieses Subjekt nicht seinerseits als kontingent Geschöpftes, sondern als metaphysische Kategorie verstanden. Deswegen müsse seine Theorie der Dezision radikalisierend überboten werden: durch „Dekonstruktion“ jener Kategorie, durch die die erreichte Öffnung zur „ursprünglichen Heterogenität“ (Derrida 2002, S. 128) wieder verdrängt und rückgängig gemacht worden sei.

Eine Theorie des Subjekts ist unfähig, auch nur der geringsten Entscheidung Rechnung zu tragen. Aber dies muß afortiori vom Ereignis gerade in seinem Verhältnis zur Entscheidung gelten. Stößt nämlich keinem Subjekt jemals etwas zu, kein Ereignis, das des Namens würdig wäre, so läuft das Schema der Entscheidung zumindest in seiner landläufigen und vorherrschenden Fassung [...] regelmäßig darauf hinaus, die Instanz des Subjekts, eines klassischen, willensbegabten, freien Subjekts einzuschließen, also die Instanz eines Subjekts, dem nichts, nicht einmal jenes singuläre Ereignis zustößt, das es aus eigener, ihm allein vorbehaltener Initiative hervorzurufen glaubt – etwa im Ausnahmezustand. (Derrida 2002, S. 105)

Dieses seiner selbst bewusste Subjekt, so Derridas Einwand, gebe es in Wahrheit aber nicht und könne es aufgrund seines nichts als kontingenten Herbeizitiert-Seins auch gar nicht geben. Die Grundlosigkeit und Singularität, aus der es qua Namensgebung gestiftet werde, lägen nämlich auf einer derart vorgängigen und ursprünglichen Ebene, dass sie für das Subjekt niemals erreich-, geschweige denn bestimmbar seien. Wollte man der konstitutiven Heterogenität „einen (Eigen‑)Namen geben“, so fasst Stephan Moebius diesen Gedanken Derridas zusammen, „so hätte man sie schon dem Gesagten einverleibt und damit die Spuren, von dem [sic] dieses Gesagte herrührt, ausgelöscht.“ (Moebius 2003, S. 90)

Die dem Subjekt vorgeordnete und es als seinen Effekt hervorbringende Wesenheit[4] ist gedacht als offen, grundlos und durch radikale, uneinholbare Andersheit geprägt, die sich nicht begrifflich repräsentieren lässt. Sobald sie benannt oder gar reflektiert werde, sei sie keine absolute Singularität mehr, sondern bereits dem Selbst angeglichen und solcherart als Anderes verschwunden. Weil jeder Begriff, der ein „Einmaliges und Identisches repräsentieren“ soll, zugleich notwendig an eine „Verallgemeinerung des Besonderen gebunden“ sei, ergebe sich das „Paradox, dass das Selbst gerade durch das ins Leben gerufen und ‚präsentiert‘ wird, was die Identität des Selbigen unterläuft.“ (Rissing/Rissing 2009, S 92) Nicht erst das Recht in der Allgemeinheit seiner Normen, sondern schon die Konstitution der Einzelnen qua Namensgebung stelle also eine grundlose Schöpfung durch die „ursprüngliche Gewalt der Sprache“ (Derrida 2016, S. 197) dar. Bereits die Benennung als grundlegende Form sei unaufhebbar dadurch charakterisiert, die Andersheit zum Verschwinden zu bringen und so Identität zu stiften, die dabei jedoch auch wieder unterminiert werde – weil sie sich auf dem erhebe, was sie zugleich verunmögliche und hintertreibe: auf der „unersetzliche[n] Singularität, die ihn [den Eigennamen; A. G.] trägt“ (Derrida 2002, S. 110).

Der Versuch, die nicht repräsentierbare Andersheit dennoch darstellen zu wollen, führe direkt in den Logozentrismus:[5] in die Herrschaft des Subjekts und seiner Vernunft. Diese Herrschaft sei durch das gleichermaßen anthropozentrische wie zum Scheitern verurteilte Unterfangen charakterisiert, sich der unendlich vorgängigen „Ur-Gewalt“ (Derrida 2016, S. 197) qua feststellender Begrifflichkeit zu entschlagen und so eine sichere Ordnung der Bedeutungen zu schaffen, die Derrida als „Metaphysik der Präsenz“ (Derrida 2016, S. 41) kritisiert. Metaphysik heißt für Derrida also jegliches Bestreben, eine Ordnung denken zu wollen, in der die Vermittlung von Begriff und Sache gewaltfrei und vernünftig gelingt. Sein „Offenes“ und „Unentscheidbares“ erweist sich hier als amputierter Nominalismus: Die kontingent gestifteten Begriffe erreichen die Sache nicht mehr und sollen es auch nicht; diese ist nur noch mit sich selbst identisch – zwischen Sein und Bewusstsein herrscht ein unüberwindbarer Hiatus.

Das Herrschaftliche an der Metaphysik besteht für Derrida weniger in der mit ihr gesetzten Behauptung, Subjekt und Objekt seien bereits hier und jetzt im Einklang. Das Kritikwürdige soll nicht etwa darin bestehen, dass metaphysische Systeme, die das Einzelne als widerspruchslose und friktionsfreie Erscheinung eines höheren Absoluten darstellen, bloß vorspiegeln, die Begriffe hätten in der bestehenden Gesellschaft bereits ihr zurichtendes Moment überwunden. Stattdessen greift Derrida die Vorstellung an, Sprache könne überhaupt jemals in ein versöhntes Verhältnis mit dem von ihr Bezeichneten treten. Demgemäß ist sein theoretisches Programm das einer „Reflexionsgewalt“, welche „die Klassifizierung als Denaturierung des Eigenen und die Identität als abstraktes Moment des Begriffs bloßstellt“, um dergestalt der ursprünglichen, weil „eingeborene[n] Nichtidentität“ (Derrida 2016, S. 197)[6] aller Phänomene gerecht zu werden. Ebendiese Reflexionsgewalt scheine bei Carl Schmitt gleichermaßen auf, wie sie in der Identität des entscheidenden Subjekts letztlich auch wieder verdrängt und unterdrückt werde. Deswegen gelte es laut Derrida, über Schmitt hinauszugehen und in einen „ursprünglicheren Bereich vorzudringen“ (Derrida 2002, S. 333).

Mit Heideggers Schicksalsversessenheit gegen Carl Schmitts Dezisionismus

Im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Carl Schmitt attestiert Derrida schließlich, dass auch Martin Heidegger in gewisser Hinsicht die strikte und bündige Gegensatzlogik mit dem Theoretiker des Politischen teile, weswegen seine Fundamentalontologie von der anti-metaphysischen Kritik ebenfalls nicht ausgenommen werden könne. Zugleich jedoch zeichne Heidegger gegenüber Schmitt aus, dass er deutlicher dazu in der Lage sei, aus dieser klassischen Denkart auszubrechen. So gelinge es ihm, sein Augenmerk stärker auf ein Denken zu richten

jenseits oder diesseits dieser oppositionellen oder ‚polemologischen‘ Logik, also auch jenseits der Reinheit, die sie zu erfordern scheint. Obgleich Heidegger mit Schmitt diese Sorge um die Reinheit des Gegensatzes teilt, würde man freilich bei ihm vergebens nach einer solchen bestimmenden Deduktion des Politischen suchen. Ist das ein Mangel? Eine aufgezwungene oder aber eine gewollte Abwesenheit? Ist jene Abwesenheit darauf zurückzuführen, daß Heidegger, indem er hinter jene Bestimmungen zurückgeht, um in einen ursprünglicheren Bereich vorzudringen, die Möglichkeit einer bestimmenden Ableitung aus der Hand gibt? (Derrida 2002, S. 333)

Auch wenn Derrida Heidegger also immer wieder dafür kritisiert, das Sein selbst noch zu traditionell gedacht zu haben, so ist doch laut Derridas Selbstauskunft die „ontisch-ontologische Differenz“ das zentrale Moment, ohne das sein eigenes Denken nicht das wäre, was es ist: „Keine meiner Fragstellungen wäre ohne den Ansatz der Heidegger’schen Fragstellung möglich gewesen“ (Derrida 2009 a, S. 31). Speziell in seinen Spätschriften sei es dann auch Heidegger stärker als etwa in „Sein und Zeit“ gelungen, die ontologische „Differenz als Differenz“ (Heidegger 2008, S. 63) und nicht als Sein darzustellen und sich so der „Metaphysik der Präsenz“ zusehends zu entziehen. Doch Derridas Versuche, an den späten Heidegger anzuknüpfen und ihn zu überbieten, geraten notwendigerweise in dieselben Widersprüche, in die schon Heidegger sich notwendig verstricken musste – und denen schon Heidegger nur mit einem Trick entkommen konnte.

Wie bei Carl Schmitt ist es auch bei Heidegger die subjektive Entscheidung – von ihm „Entwurf“ oder „Wahl“ genannt[7] – mittels derer das Subjekt in einen vorgängigen Bereich jenseits der Subjektivität springen sollte; und es ist eine Erschleichung, die Heidegger aus dieser Bredouille verhilft. Im selben Maß, in dem er qua ontologischer Differenz das Sein vom Seienden trennt und es als vorgeordnet setzt; im selben Maß, in dem er also alle Momente von subjektiver oder begrifflicher Vermitteltheit des Seins aus diesem eliminiert, entzieht er dem Subjekt auch das Moment der Entscheidung und verschiebt es in das vorgängige Sein. So wird das Sein unter der Hand zum Subjekt, das dem Einzelnen die Entscheidung auferlegt.

Überdies aber ist der Entwurf wesenhaft ein geworfener. Das Werfende im Entwerfen ist nicht der Mensch, sondern das Sein selbst, das den Menschen in die Ek-sistenz des Da-seins als sein Wesen schickt. Dieses Geschick ereignet sich als die Lichtung des Seins, als welches es ist. (Heidegger 2004, S. 337)

So kann Heidegger sein Programm als Auftrag der obersten Instanz präsentieren, dem er lediglich zum Ausdruck verhelfe – und schließlich unterstellen, die Subjektphilosophie überwunden zu haben: Nicht ein Subjekt sei es, das sich entwerfe, sondern der Einzelne bekomme, als vom Sein Geworfener, den Entwurf von diesem auferlegt. „Zu Heideggers Mythologisierung von Sein als der Sphäre des Geschicks fügt sich die mythische Hybris, welche den dekretierten Plan des Subjekts als den der obersten Autorität verkündet, sich in die Stimme des Seins selbst verstellt. Bewußtsein, das dem nicht willfahrt, wird disqualifiziert als ‚Seinsvergessenheit‘.“ (Adorno 1997, S. 95)

Exakt dieselbe Figur wiederholt sich bei Derrida. Auch ihm gelingt das Meisterstück, seine Entscheidungen scheinbar widerspruchslos als „strategisch“ (Derrida 1988 b, S. 35) zu charakterisieren, ohne dass er sich deswegen dem Vorwurf des Subjektivismus aussetzen zu müssen meint, obwohl eine Strategie ohne Subjekt genauso wenig denkbar wäre wie der Heideggersche Entwurf. So kommt Derrida ebenfalls nicht ohne den Begriff der „Wahl“ aus, der es den Einzelnen ermöglichen soll, die Entscheidung zu treffen zwischen „dem Weg des Logos und dem Umweg, dem Labyrinth, dem ‚Palinthrop‘, in dem der Logos sich verliert“ (Derrida 1976, S. 101). Nur wenn diese Wahl keine Wahl eines Subjekts ist, sondern diese quasi für es getroffen wird, kann jedoch behauptet werden, dass die Dekonstruktion ihr Ziel der Unterminierung der Subjektphilosophie und ihres Logozentrismus erreicht habe. Und so ist es dann eine gespenstische „Heimsuchung durch das Unentscheidbare“ (Derrida 1991, S. 49), die dem Subjekt bei seinem Angriff auf die Vernunft zu Hilfe eilt. Die Heimsuchung soll es sein, die dem Einzelnen die selbstbewusste Entscheidung zur Dekonstruktion der Begriffe abnimmt, indem sie ihm deren Zerrüttung als objektives Schicksal aufprägt, dem nur noch verantwortungsvoll Folge zu leisten sei.

Kein verläßlicher, stabiler Begriff [...], keine vertraglich gesicherte Übereinkunft mehr zwischen Wort und Begriff, zwischen Vokabel und Bedeutung. Wir sind mit dieser Konversion und Bekehrung nicht fertig. Wir werden nie mit ihr fertig werden. Denn diese Unbeendbarkeit ist keine akzidentielle, man kann und man darf mit ihr zu keinem Ende kommen. [...] Wir haben es erneut mit der unendlichen Überbietung zu tun. Und diese ist keineswegs auf die Intention eines Autors, auf eine willentliche Entscheidung angewiesen: sie spielt sich ganz von selbst ein, bringt sich selbst in Fahrt, es trägt sie über sich hinaus, sie verliert den Kopf in der Zerrüttung der begrifflichen Identität, der wir gerade nachgehen. (Derrida 2002, S. 92 f.)

Hier setzt dann auch der Vorwurf Derridas an Carl Schmitt – der dieses Wegarbeiten der Subjektivität, Heideggers berühmte Kehre, nicht in derselben Weise mitgemacht hat – an, dieser würde auf dem Boden der subjektivistischen Metaphysik verharren, was ihn letzten Endes an die Seite der Nationalsozialisten geführt habe. Weil Derrida den Schmittschen Subjektbegriff zum alleinigen Problem erheben möchte, darf es ihm nicht zum Thema werden, dass auch bei Schmitt ein ‚entsubjektivierendes‘ Moment zum Tragen kommt, das schon in dessen früher Kritik der bürgerlichen Vertragstheorien auftaucht. Wenn es, so Schmitts dort gegen Rousseau gerichtete Argumentation, keine dem Vertragsschluss vorausgehende Homogenität gäbe, dann könnte auch kein Vertrag geschlossen werden, wenn allerdings Homogenität existiere, dann sei der Vertrag unnötig. Die Vorentscheidung sei also immer schon gefallen und hinter den liberalen Konstruktionen käme stets ein Trans- oder Vorsubjektives zum Vorschein, auf dessen Boden die subjektiven Entscheidungen sich erst ereignen könnten (vgl. Schmitt 2010, S. 19 f.). In Schmitts Schrift zur „Verfassungslehre“ tritt diese Homogenität als eine der jeweiligen Rechtsordnung notwendig vorausgehende Volkssouveränität auf, die als „formlos Formende[s]“ (Schmitt 2017, S. 81) agiert, das „immer neue Formen [...] aus sich herausstellt“, sich selbst jedoch „niemals einer endgültigen Formierung unterordnet“ (Schmitt 2017, S. 79) – also dem allumfassenden Instituierungsgeschehen entsprechend, das Derrida anvisiert, um so dem Subjektivismus Carl Schmitts zu entkommen.

Schmitt als „Kronjurist des dritten Reiches“ (vgl. Söllner 1992) überließ die Entscheidung zur konkreten Ordnung dann aber doch stets einer Instanz wie dem „Führer“, der diese Wahl souverän zu treffen habe (vgl. Löwith 1984, S. 54, 60 f.). Darin bleibt bei Schmitt das subjektive Moment zeitlebens vordergründiger erhalten als bei Heidegger. Auch dieser hatte erst in der vollziehenden Entscheidung des „Führers“ die „‚wissende Entschlossenheit‘ zum Wesen des Seins“ festgemacht, um nach seinem eigenen politischen Intermezzo als „Führer“ der Freiburger Universität schließlich wieder die Pose des unpolitischen, weil bloß dem Sein verpflichteten Denkers einzunehmen und „in alter Weise dem neuen ‚man‘ zu opponieren“ (Löwith 1984, S. 66). Den Nationalsozialismus als in gewisser Weise immer noch zu seinsvergessen, sprich: nicht radikal genug charakterisierend, war er nun bestrebt, das Subjekt gänzlich im Sein aufgehen zu lassen, um so noch die Nazis als Metaphysiker zu rügen, die dem Individuum einen zu hohen Stellenwert einräumten.

Dementsprechend ist es bei Derrida dann auch ausgerechnet die als „Seinshörigkeit“ (Adorno 1997, S. 76) auftretende Schicksalsversessenheit, die als Beleg für Heideggers Entnazifizierung herhalten muss. Heidegger habe „eine Vergeistigung des Nazismus auf sich genommen“ und so mit dessen „dunkle[n] Kräften“ (Derrida 1992 b, S. 48 f.) gebrochen – womit sich wiederum der den Freispruch formulierende Derrida selbst in die Lage versetzt sieht, an dessen Seinslehre anzuschließen. „Wir übernehmen Verantwortung in einer Situation der Heteronomie. [...] Ich muss einem Gespenst gehorchen“ (Derrida 2007, S. 41), bringt er schließlich seinen an Heidegger geschulten Einwand gegen Schmitts Dezisionismus auf den Punkt. Keineswegs gehe die Entscheidung auf den Entscheidenden selbst und dessen Intentionen zurück, gar auf Gründe der Vernunft und Rationalität, weswegen es des absurden Begriffs einer „passiven Entscheidung“ (Derrida 2002, S. 105) bedürfe, ohne den Verantwortung nicht zu denken sei.

Doch selbst noch an dieser Stelle, wo der Einzelne scheinbar aufzugehen scheint in dem, über das er nichts verfüge, blitzt sofort wieder der Vorrang des Subjekts auf, unter dem die gesamte Theorie Derridas in Wahrheit steht. Sosehr in ihr nämlich von Heteronomie die Rede ist, sowenig wird diese auch theoretisch ernst genommen – soll sie doch zugleich der Rettungsanker sein, der Halt verleiht. Dem Einzelnen, der seine Fremdbestimmung durch die gespenstische Heimsuchung akzeptiere und anerkenne, soll durch diese affirmative Hinnahme wiederum Souveränität erwachsen. Die Abdankung des Subjekts zugunsten der vorgeordneten Bewegung, seine Identifizierung mit der Ohnmacht gegenüber dem „Übermäßige[n] des Undarstellbaren“ (Derrida 1991, S. 57), das ihn in die Krise stürzt, soll dem Einzelnen also nicht zum Nachteil gereichen, sondern vielmehr zu seinem Nutzen und zu seiner Bestätigung. „Knechtisch ist“ für Derrida folglich „die Verdrängung, souverän das Aushalten dieses Risikos.“ (Menke 1998, S. 192) Souveränität zeige sich nur, wenn der Einzelne sich selbst auf jenes Spiel setze, in das er geworfen sei.

Der hier angedachte Ausnahmezustand soll noch tiefgreifender sein als der von Schmitt ins Auge gefasste, weil aus letzterem, so Derridas Kritik am Dezisionismus, das Subjekt unbeschadet wieder hervorgegangen sei.[8] Die – wie schon bei Heidegger – subjektiv in Szene gesetzte Ausstreichung des Subjekts gilt für Derrida demnach als Überwindung des Subjektivismus: ein grundlegender Widerspruch, der sich in der Struktur der ganzen theoretischen Konstruktion niederschlägt.

Derridas Mythos als Resultat seiner Dekonstruktion

Erneut ist es eine Überbietungsfigur, die hier zum Tragen kommt. Derrida zielt darauf ab, Carl Schmitt noch zu radikalisieren und den von diesem angeblich nur halbherzig angedachten Ausnahmezustand in seiner vollen Tragweite zu entfalten. Es gelte, auch noch das entscheidende Subjekt auf jenes Nichts zu reduzieren, aus dem die Entscheidung geschöpft sein soll, um so zu erweisen, dass in Wahrheit das „supplementäre[.] Nichts“ (Derrida 2003 a, S. 23) entscheide und zur Entscheidung zwinge. Nicht zufällig ist es exakt diese Stelle, an der Derridas Kokettieren mit gegenaufklärerischen Theorien sich in Formulierungen offen Bahn bricht, die nur noch als irrationalistisch zu bezeichnen sind.

Bedingung des Ereignisses, ist die Entscheidung ihrer Struktur nach stets eine andere Entscheidung, eine zerreißende Entscheidung als Entscheidung des anderen. In mir. Des absolut anderen in mir, des anderen als des Absoluten, das in mir über mich entscheidet. Prinzipiell und schon ihrem traditionellsten Begriff nach absolut singulär, ist die Entscheidung nicht allein stets eine Ausnahme. Sie ist die Ausnahme von mir. In mir. [...] Dort, wo ich keine Wahl habe, wo ich über das entscheide, worüber ich nichts vermag und was ich nicht entscheiden kann, was ich notwendig und aus Freiheit entscheiden muß, dort wird mir noch das Leben selbst vom Herzschlag des anderen gespendet. [...] Ein rhythmisches Pulsieren spendet diesem Herz, wird ihm vielleicht das spenden, was man Blut nennt, und spendet diesem die Kraft seines Herbeiströmens. (Derrida 2002, S. 105–107)

Einerseits rückt solch geradezu mythische Beschwörung von – in ihrem angedrehten Konkretismus an so etwas wie Urkräfte gemahnenden – Begriffen wie Kraft, Herzschlag oder Blut Derrida in unmittelbare Nähe zu Heideggers Archaismen und Ursprünglichkeitsmetaphern.[9] Andererseits genügt dann stellenweise auch Heidegger nicht der gegen Schmitt gerichteten Überbietungsbewegung und Derrida, der selbst vor konkretistischer Blutsmetaphorik nicht zurückschreckt, wirft ihm vor, das Sein zu anschaulich und heimelig auszustatten. Heidegger wähle eine „Metaphorik der Nähe“ sowie „der einfachen und unmittelbaren Präsenz“ (Derrida 1988 c, S. 152), was ihn zu seinen teilweise besinnlich-rustikal anmutenden Metaphern animiere: Metaphern, die der radikalen Abwesenheit und Differenz nicht gerecht würden. Derridas Abneigung gegen solche Begrifflichkeiten dürfte nicht zuletzt in seinem an Georges Sorel erinnernden anarchischen Willen zur Destruktion[10] begründet liegen, welcher sein Projekt der Begriffszerrütung „eher in der subversiven Welt des Partisanenkampfes“ (Habermas 1988, S. 192) zu Hause sein lässt als in der Heideggerschen Bauernstube.[11]

Erneut wirft Derrida einem seiner Vordenker also vor, noch metaphysischen Problemstellungen verhaftet zu sein. Insofern Heidegger nach dem Sinn der durch Unentscheidbarkeit und Sinnentzogenheit bestimmten Ermöglichungsbedingung frage, ähnele sein Denken noch zu sehr der traditionellen Fassung des Bewusstseins und damit der modernen Vorstellung dessen, was das Subjekt sei und was es über seine Welt vermöge. Damit sei es seiner Seinslehre letzten Endes nicht gelungen, den Menschen in der Erörterung der Seinsfrage verschwinden zu lassen. Weil Heideggers oberster Begriff Derrida noch zu sehr an jenes Inhaltliche erinnert, von dem er gebildet ist, weil er ihm also nicht leer, unbestimmt und destruktiv genug ist, schlägt er als Lösung vor, auch dieses Sein als bloßen Effekt der Differenz zu betrachten: „Seiend und Sein, ontisch und ontologisch, ‚ontisch-ontologisch‘ wären im Hinblick auf die Differenz in originaler Weise abgeleitet; abgeleitet auch in Bezug auf das, was wir später die *Differenz (différance) nennen werden.“ (Derrida 2016, S. 44)

Das mythische Moment in Derridas Theorie resultiert aus der von Heidegger übernommenen ontologischen Differenz, deren grundlegenden Widerspruch er auch in all seinen Überbietungsversuchen nicht loswerden kann. Wenn die vorgängige Differenz wirklich von allem Bezug auf Seiendes gereinigt wäre, dann könnte das Subjekt als Empirisches gar nicht über sie sprechen. Es könnte keine Theorie der Ursprungsbewegung différance geben. Abgesehen von der grundsätzlichen Frage, wie die Einzelnen etwas über eine ihnen absolut entzogene Instanz wissen sollten, deren abgeleitete Produkte sie doch bloß seien: jeder Versuch, diese der Reflexion unzugängliche Instanz doch zu reflektieren, würde sie der Einheit eines Begriffs unterordnen und damit verfehlen. Was Derrida der Metaphysik vorwirft, dass sie nämlich „immer darin bestanden hat, der différance die Präsenz des Sinns unter diesem oder einem anderen Namen entreißen zu wollen“ (Derrida 2009 b, S. 57), würde auch für den Begriff gelten, mit dem er selbst benennt, was er als Prozess der Ableitung charakterisiert – und mit dem er seine radikale Andersheit dann doch bestimmt: eben darin, produktive „Ur-Synthese“ (Derrida 2016, S. 105) zu sein.

Es ist dieselbe Aporie, die schon bei Heidegger zutage trat – wo Derrida sie durchaus erkannte, jedoch nicht kritisch entfalten, sondern radikalisierend überbieten wollte: jene Aporie, die aus dem Versuch resultiert, „mit diskursiven Mitteln das verständlich zu machen, was er ‚ontologische Differenz‘ nennt“, während „die Sache sich jedoch dieser Intention widersetzt“ (Huch 1967, S. 41). Entweder lassen sich Aussagen über diese treffen, dann kann sie aber nicht das unerreichbar Differente zum Seienden wie zum Begriff sein. Oder sie ist das absolut Verschiedene, dann ließe sich aber auch kein Begriff für sie finden. Allein durch die Existenz des différance-Begriffs erwiese sich also die Dekonstruktion als Ausdruck jenes Unterfangens, das von ihr mit dem Begriff Logozentrismus belegt wird. Dabei ist gleichgültig, ob man dem obersten Begriff nun den Namen Einheit oder Differenz gibt, da beide Bezeichnungen notwendigerweise Bestimmung in sich enthalten. Derrida kann über seine „ultratranszendental[.]“ (Derrida 2016, S. 107) waltende Wesenheit also gar nicht sprechen, ohne ihr das zu unterstellen, durch dessen vollständige Abwesenheit sie zugleich per definitionem ausgemacht sein soll.

Derridas „Gerechtigkeit“ als theoretische Verdopplung des Bestehenden

Es ist nicht zuletzt die Unlösbarkeit dieses Widerspruchs, die Derridas Anschließen an die politische Theologie inhaltlich motiviert. Das Ereignis, das einer absoluten Überraschung gleich über die Individuen hereinbreche, kann nur im Sinn einer Offenbarung gedacht und begrifflich gefasst werden. So sieht sich Christoph Türcke von Derridas Differenztheorie an den deus absconditus der Theologie erinnert: an den verborgenen Gott. „Die différance ist noch eine Umdrehung mysteriöser als dieser Gott. Sie ist dasjenige, was übrigbleibt, wenn man vom Schöpfungsakt den Schöpfer und das Geschaffene abzieht und auch noch leugnet, daß das was zurückbleibt, ein Schöpfungsakt sei.“ (Türcke 2005, S. 187) Weil dieser Offenbarung auch noch der letzte Bezug auf begriffliche Bestimmung ausgetrieben werden soll, muss Derrida geradezu zwangsläufig zu irrationalistischen Formulierungen greifen, die zugleich aber das Ende von Philosophie im emphatischen Sinn, ja das Ende von an rationalen Maßstäben sich orientierendem Denken überhaupt markieren. Dies findet seinen Ausdruck in einer mythischen Beschwörung des generativ tätigen Offenbarungsgeschehens, die Theorie schließlich in eine Art Gottesdienst samt Opferstätte verwandelt.

Der Gott aber, an den man sich jenseits der Onto-Theologie richtet, der nicht mehr der Gott der Philosophen und Wissenden, nicht mehr der Grund des Seins oder causa sui wäre, jener an den man sich im Gebet richtet und der das Gebet zu erhören*, ja der Bitte stattzugeben vermag – dieser Gott wäre, wenn ich recht verstanden habe, ein Gott, dem zu opfern möglich und zweifellos notwendig ist. [...] Wann werdet Ihr sie hören, die Stimme jenes fremdartigen Freundes, den Euer Dasein bei sich trägt*, des Freund-Feindes, der im Herzen einer Feindseligkeit* zu Euch spricht, aus jener ursprünglichen Feindschaft, die uns auf immer im Guten wie im Schlechten vereint, uns zum Besten und zum Schlimmsten versammelt? (Derrida 2002, S. 491 f.)[12]

Doch nicht nur innertheoretisch schlägt sich diese Wendung zum Irrrationalismus nieder. Insofern die Dekonstruktion nicht bloß als theoretische Übung gedacht ist, sondern als geistige Aufnahme und Reproduktion: ja als „Effekt“ der real am Werk seienden „Dekonstruktion in actu“ (Derrida 2014, S. 99), hat Derridas Mythologie auch unmittelbare Auswirkungen auf sein Verständnis von Politik und Demokratie, die er als „vertagt“ (Derrida 1992a) bzw. als im Kommen bezeichnet. Demokratie sei eine, aus der Beschaffenheit der grundlosen Differenzbewegung notwendig resultierende „[u]nendliche Aufgabe“ (Derrida 1992 a, S. 91). Sie existiere nicht und könne auch niemals existent werden: „Demokratie [muss] noch erfunden werden. Tag für Tag. Mindestens.“ (Derrida 1992 a, S. 90) Der in diesen Formulierungen aufscheinende Versuch einer Ontologisierung des Politischen wird in seiner Schrift über den „[m]ythischen Grund der Autorität“ (Derrida 1991) offensichtlich. Die zentrale Figur bildet hier die, von Derrida behauptete, ontologische Differenz von Recht und Gerechtigkeit, wobei er letztere mit der Dekonstruktion gleichsetzt und als das „Undekonstruierbare“ (Derrida 1991, S. 31) bezeichnet: „Die Dekonstruktion ist die Gerechtigkeit“ (Derrida 1991, S. 30), die aufgrund ihres „bejahenden Wesens irreduktibel“ und „unendlich“ sei: „Die Dekonstruktion ist verrückt nach dieser Gerechtigkeit, wegen dieser Gerechtigkeit ist sie wahnsinnig.“ (Derrida 1991, S. 51 f.)

Derridas Dekonstruktion, die doch von sich behauptet, die radikale Infragestellung der metaphysischen Prinzipien des abendländischen Denkens zu sein, landet letzten Endes bei der affirmativen Inthronisierung eines ebensolchen Prinzips, „das dem Säurebad der Dekonstruktion widersteht“ (Lilla 2015, S. 173)[13] – weil es als „Zusage“ jeder Frage vorausgehe: „Ich spreche zu dir, ja, ja, herzlich willkommen, ich bin da, du bist da, hallo!“ (Derrida 2007, S. 11) Anders als die von ihr verklagten „logozentrischen“ Prinzipien, soll die von der Dekonstruktion ins Feld geführte „Gerechtigkeit“ jedoch der Rationalität und Vernunft in keiner Weise mehr zugänglich sein. Damit übertrumpft Derridas höchste Wesenheit den Autoritarismus der obersten Begriffe der Metaphysik, insofern diese in ihrem Beharren auf vernünftige Einsicht und rationale Begründung wenigstens noch beim Wort genommen werden und an ihrem eigenen Anspruch gemessen werden konnten; eine Möglichkeit, die entfällt, wenn frohen Mutes eingestanden wird, „verrückt“ und „wahnsinnig“ zu sein. Rationale Erörterung dessen, was Gerechtigkeit sein könnte, ist dort nicht möglich, wo solche Erörterung als herrschaftliche Neutralisierung der Gerechtigkeit verstanden und abgelehnt wird. Im Rahmen von Derridas Theorie bleibt letzten Endes nur der Weg offen, seinen Offenbarungen Glauben zu schenken oder nicht; sprich: am sacrificium intellectus teilzunehmen oder nicht.

Mit Derridas Abrücken von jedem herkömmlichen Verständnis von Gerechtigkeit und deren Verlegung in einen Bereich, der allem Empirischen uneinholbar vorgängig zu sein hat, ist zugleich die Möglichkeit ihrer historischen Verwirklichung vertagt – und zwar bis ans Ende aller Tage und darüber hinaus: Sie sei unkündbar „der Zukunft geweiht“ (Derrida 1991, S. 57), wodurch sie grundsätzlich niemals Realität werden könne.

Darin steckt das zutiefst Affirmative seiner Theorie. Nicht nur schwört sie die Einzelnen darauf ein, dass sie von vorgängigen, übermächtigen und rational nicht durchschaubaren Prinzipien beherrscht seien, über die sie nichts vermögen, als sie affirmativ zur Kenntnis zu nehmen, sich in sie einzufühlen und ihnen gerecht zu werden. Zugleich wird das „Gerechtigkeit“ genannte Prinzip auch mit dem permanenten Aufschub seiner Verwirklichung ineins gesetzt. Gerechtigkeit wird so zu einem inhaltsleeren Versprechen, das notwendigerweise an sich selbst scheitert – und ein souveräner Umgang bestünde darin, diesen Mangel auch noch als Gewinn zu verbuchen: als eine Art Existenzial, das die Gesellschaft offen halte gegenüber autoritären Schließungsversuchen, die unter anderem darin bestünden, sich nicht nur beim Versprechen zu bescheiden, sondern dieses auch realisieren zu wollen. Derridas auf Ewigkeit vertagte Gerechtigkeit „stimmt die demokratischen Staatsbürger in die immer wieder erneuerte und enttäuschte Erwartung der Demokratie ein“ (Hirsch 2007, S. 166) – sprich: in die Krisenhaftigkeit der durch Staat und Kapital vergesellschafteten Gesellschaft.

In diesem Sinn hat Derridas Theorie der Dekonstruktion gerade in all ihrer Irrationalität einen für die Herrschaft rationalen Kern. Sie stellt eine Durchhalteparole dar in einer Gesellschaft, die sich jeden Optimismus abgeschminkt hat, die von ihr einstmals gemachten Versprechen jemals einlösen zu können; und die die Einzelnen deswegen auf eine illusionslose Affirmation dessen, was ist, verpflichten muss. An die Stelle von Legitimationsideologien klassischen Zuschnitts, die in ihren Begriffen über das Bestehende, dem sie verpflichtet waren, zugleich auch hinauswiesen, tritt zusehends die unmittelbare Ideologisierung der gesellschaftlichen Realität und ihrer krisenhaften Zerfallenheit. Es sei zu beobachten, stellte bereits Adorno im Hinblick auf die gänzlich zur zweiten Natur gewordene Gesellschaft fest, dass das unmittelbar Gegebene „gewissermaßen zur Rechtfertigung seiner selbst in seiner bloßen Existenz erhoben ist. Ich glaube, der Schleier, unter dem die Menschen heute existieren, unter dem das Bewußtsein heute existiert, ist, wenn ich es extrem formulieren darf, der Schleier der Schleierlosigkeit.“ (Adorno 2011, S. 234). Derridas Auseinandersetzung mit dem Begriff des Politischen, die in der Inthronisierung einer durch Unerreichbarkeit und Entzug charakterisierten Gerechtigkeit resultiert, ist theoretische Verdoppelung des Bestehenden, die es samt seiner Verwerfungen zum Wesen seiner selbst erklärt – und damit zu dessen Verewigung beiträgt.

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Online erschienen: 2018-10-11
Erschienen im Druck: 2018-10-10

© 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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