Rezensierte Publikationen:
Nordostbayern Sprachatlas von Scheuringer Hermann 2014 Einführung von Johann Schmuck ( Sprachatlas von Nordostbayern [sic], hg. v. Robert Hinderling, Werner König, Ludwig M. Eichinger, Hans-Werner Eroms, Horst Haider Munske u. Norbert Richard Wolf. Regionalteil 4. Sprachatlas von Nordostbayern hg. v. Robert Hinderling, Anthony Rowley, Franz Xaver Scheurer u. Hermann Scheuringer) Heidelberg Universitätsverlag Winter 396 S.
Nordostbayern Sprachatlas von Hinderling Robert 2004 Band 1. Lautgeographie I. Vertretung der mittelhochdeutschen Kurzvokale von Robert Hinderling, Jürgen Krappmann, Johann Schmuck u. Michael Schnabel ( Bayerischer Sprachatlas, hg. v. Robert Hinderling, Werner König, Ludwig M. Eichinger, Hans-Werner Eroms, Horst Haider Munske u. Norbert Richard Wolf. Regionalteil 4. Sprachatlas von Nordostbayern hg. v. Robert Hinderling, Anthony Rowley u. Franz Xaver Scheurer) Heidelberg Universitätsverlag Winter xii, 204 S., 179 Ktn.
Es ist alles andere als üblich, eine Rezension mit dem Hinweis auf einen Fehler zu beginnen. Wenn gegen den Usus an dieser Stelle verstoßen wird, dann um sogleich das [sic] im oben genannten ersten Titel zu erklären. Der Sprachatlas von Nordostbayern (SNOB) ist ein Teilunternehmen des Gesamtprojekts Bayerischer Sprachatlas, dessen Name als Reihentitel stets auf der Frontispizseite aller zugehörigen Publikationen erscheint. Im Einführungsband des SNOB ist jedoch statt des zu erwartenden Reihentitels Bayerischer Sprachatlas irrtümlicherweise die Bezeichnung des Teilprojekts Sprachatlas von Nordostbayern aufgeführt. Dieser Lapsus an exponierter Stelle ist umso ärgerlicher, als er bei konsequent korrekter Zitierweise des Buchtitels durch alle Bibliographien, Literaturlisten und Bibliothekskataloge perpetuiert wird.
Der SNOB bildet also einen von sechs Regionalteilen des Gesamtprojekts Bayerischer Sprachatlas (BSA). Die anderen Regionalteile stellen die folgenden Werke dar: Sprachatlas von Bayerisch-Schwaben, Sprachatlas von Unterfranken, Sprachatlas von Mittelfranken, Sprachatlas von Niederbayern und Sprachatlas von Oberbayern.1[1]
Vom SNOB, dessen Arbeitsgebiet die Regierungsbezirke Oberfranken und Oberpfalz umfasst, sind bisher zwei Bände erschienen: 2004 der erste Kartenband – Lautgeographie I. Vertretung der mittelhochdeutschen Kurzvokale – sowie 2014 der Einführungsband, die beide Gegenstand der vorliegenden Sammelrezension sind. Eine Erklärung für die große Verzögerung in der Publikationsfolge gibt gleich das Vorwort des Einleitungsbandes. Der krankheitsbedingte Ausfall des Atlasinitiators, -leiters und Spiritus Rector Robert Hinderling kurz nach Erscheinen des ersten Kartenbandes führte zum jahrelangen Erliegen der Arbeiten. Das Vorwort im ansonsten von Johann Schmuck verfassten Einführungsband stammt von Hermann Scheuringer, der 2011 nach dem Tod Hinderlings die Projektleitung übernommen hat. Die SNOB-Arbeitsstelle wurde von Bayreuth nach Regensburg verlegt, wo Scheuringer seit 2010 eine Professur für Deutsche Sprachwissenschaft innehat.
Zum Einführungsband: Dieser ist, wie bereits gesagt, von Johann Schmuck, einem langjährigen Mitarbeiter des Atlasunternehmens, verfasst worden. Derselbe ist auch als Koautor am Kartenband 1 beteiligt. Von dem heute noch aktiven Atlaspersonal scheint er der einzige zu sein, der die Genese des SNOB bis ins Kleinste überblickt (vgl. Einführung, S. 9). Der Text der Einführung gliedert sich in sechs Kapitel. Die ersten Gliederungspunkte von Kapitel 1 (S. 11–53) behandeln Grundlegendes. Schmuck berichtet über die Entwicklung des Atlaskonzepts, das die Tradition der westoberdeutschen Dialektatlanten (der Sprachatlas der deutschen Schweiz wird besonders hervorgehoben) fortsetzt, sowie über die von Hinderling angestoßene Ausweitung zum Großprojekt Bayerischer Sprachatlas und die vielfältigen Vorarbeiten des SNOB ab 1982 bis zum regulären Start der Exploration 1987. Diese ist Gegenstand eines weiteren Abschnitts von Kapitel 1. Man erfährt unter anderem, dass die 1572 befragten Hauptgewährsleute die Kriterien hohes Lebensalter, Ortsgebürtigkeit und -ansässigkeit sowie landwirtschaftliche Berufstätigkeit zu erfüllen hatten. Die elf Hauptexploratoren werden in Kurzbiographien vorgestellt. Erwähnung finden auch die fünf Nebenexploratoren mit ihren Arbeitsanteilen. Regelmäßige Transkriptionsübungen hatten die Aufgabe, Einheitlichkeit in der Notationstechnik herbeizuführen. Die Erhebungsarbeit, bei der die Feldforscher genaue, in mehreren Handreichungen formulierte Anweisungen zu befolgen hatten, stieß immer wieder auf die den Dialektologen bekannten Probleme (Teilnahmeverweigerung, Elizitierungsschwierigkeiten usw.). Die Feldarbeit war im Großen und Ganzen Ende 1997 abgeschlossen.
Das Untersuchungsgebiet des SNOB weist 174 Erhebungsorte in Oberfranken und 244 in der Oberpfalz auf. Ergänzend kommen hinzu: neun Aufnahmeorte in Tschechien sowie zehn in Thüringen und jeweils einer in Mittelfranken und in Sachsen (Vogtland). Die Grundkarte des Atlasses zeigt also insgesamt 439 Belegpunkte. Es wurden je nach den lokalen Gegebenheiten und Bedingungen Voll- oder Teilaufnahmen hergestellt. In die erste Kategorie fallen 348, in die zweite 91 Erhebungen. Ein Großteil der Dialektbefragungen wurde auf Audiokassetten mitgeschnitten, so dass die Notationen gegebenenfalls überprüft werden konnten. Die Phonothek des SNOB umfasst 1096 Tonträger, an deren Digitalisierung zum Zeitpunkt der Niederschrift des Einführungsbandes gearbeitet wurde. Zudem hat man alte bäuerliche Gerätschaften, Gebäude sowie „Besonderheiten des Ortes“ (Einführung, S. 33) auf über 3600 Photographien festgehalten.
Die Präsentation der Sprachdaten erfolgt auf den Karten des SNOB nach der Punkt-Symbol-Methode. Die Darstellung wird teilweise ergänzt durch Isoglossen, Raster und Schraffuren, die Zusatzinformationen bieten. Schmuck weist auf die Abstrahierungs- und Typisierungsprozesse hin, die von der Erhebung des Sprachmaterials bis zu seiner Kartierung (akustisches Signal – Transkript – Symbol) stets mit interpretatorischen Entscheidungen verbunden sind. Da neben Vollerhebungen für etliche Ortspunkte lediglich Teilerhebungen vorliegen (s. o.), weisen die Sprachkarten des SNOB auf Grund fehlender Belege Lücken auf. Diese konnten partiell kompensiert werden, wenn für das nicht abgefragte Stichwort adäquater Ersatz an einer anderen Fragebuchstelle zu finden war. Die Karten verzeichnen nicht nur die durch Abfrage der Testsätze gewonnenen Sprachdaten als Symbole. Sie führen darüber hinaus im Kommentartext alle möglichen Formen auf, die das mitnotierte Zusatzmaterial ergab. In einem eigenen Abschnitt berichtet Schmuck – detaillierter als das Vorwort – über die Verzögerungen und schließlich den Stillstand der Atlasarbeiten zwischen 2006 und 2011. Den Abschluss des ersten Kapitels bilden das Quellen- und Literaturverzeichnis sowie zwei Anhänge. Diese rekrutieren sich aus den von Hinderling verfassten Grundsätzen 1. für die Exploration und 2. für die Weiterverarbeitung der Sprachaufnahmen bis zum Mikrofiche.
Der zweite Teil des Einleitungsbandes (S. 55–66) stellt das Transkriptionssystem des SNOB dar, der wie alle anderen oberdeutschen Sprachatlanten die Lautschrift der Zeitschrift Teuthonista adaptiert. Es schließt sich eine Liste der bei der Exploration verwendeten Abkürzungen und Sonderzeichen an. Kapitel 3 (S. 67–155) ist dem Fragebuch gewidmet. Dem vollständigen Abdruck gehen Informationen zu seiner Entstehung und Anlage voraus. Das Questionnaire orientiert sich an dem des Sprachatlasses von Bayerisch-Schwaben, dessen Stichwortnummerierung es übernimmt. Ergänzungen und Korrekturen während der Erhebungsarbeit haben letztlich zu vier modifizierten Fragebuchausgaben geführt. Die Lemmata sind nach Sachgruppen angeordnet. Die Anzahl der Fragen beläuft sich auf 2076. Der vierte Teil (S. 157–290) enthält die Aufnahmeprotokolle, die landkreisweise (von Nordwest nach Südost) nach der Ordnungsnummer der Belegorte sortiert sind. Kapitel 5 (S. 291–308) listet die Explorationsorte auf, und zwar doppelt: 1. nach dem Ordnungsprinzip der Aufnahmeprotokolle und 2. in streng alphabetischer Folge.
Der SNOB hat auch die Dialektnamen der Aufnahmeorte, der Nachbarorte sowie der nächstgelegenen größeren Stadt erfragt. Kapitel 6 des Einführungsbandes (S. 309–396) verzeichnet die Erhebungsergebnisse. Die Dialektbezeichnung des Belegortes wird allerdings nur dann genannt, wenn der offizielle Name erheblich davon abweicht. Das auch in diesem Fall nach Landkreisen und Ordnungsnummern der Belegpunkte gegliederte Namensverzeichnis wird durch ein alphabetisches Register sämtlicher erhobenen Ortsnamen (in amtlicher Schreibweise) ergänzt. Die Einleitungskarte E 6 des Kartenbandes 1 führt die Dialektnamen der Aufnahmeorte vollzählig in phonetischer Umschrift auf (Punkt-Originalform-Karte).
Im Einführungsband werden überaus selbstkritisch verschiedene Versäumnisse, Mängel und Fehler benannt, die im Laufe der Atlasarbeit (beginnend beim Fragebuch über die Exploration bis zur Kartierung) aufgetreten sind. Dabei werden auch jene erwähnt, die noch vor der Drucklegung behoben werden konnten (folglich überhaupt nicht von Belang sind) oder vom Atlasbenutzer gar nicht bemerkt werden können (vgl. z. B. S. 15, 32, 35, 68 und 69). Methodisches Vorgehen, Arbeitsweise und Entscheidungsprozesse werden durchweg offengelegt. Diese Transparenz gibt dem Rezipienten des Werks nicht nur einen Einblick in die Praxis der Atlasarbeit, sondern – was wichtiger ist – Aufschluss über (stets unumgängliche) Eingriffe und Einschränkungen bei der Erhebung und Dokumentation des Sprachmaterials. Hierdurch wird nachvollziehbar, an welchen Stellen, in welcher Art und in welchem Ausmaß Interpretation in die Datendokumentation Eingang gefunden hat. Schmucks Ausführungen sind äußerst minutiös, gewissenhaft und umfassend, was an sich lobenswert ist, aber es wird zuweilen übertrieben. Hier von Detailbesessenheit zu sprechen ist kaum verfehlt. Der Leser muss sich mitunter mühsam durch eine Fülle von allerlei Informationen kämpfen, um das Relevante herauszufiltern. Es ist doch völlig unerheblich zu wissen, dass z. B. Ergänzungen/Korrekturen in den Fragebüchern „mit Bleioder Farbstift“ (Einführung, S. 35) erfolgten. Der Einführungsband weist nur wenige, nicht nennenswerte Unstimmigkeiten auf. Schwerer ins Gewicht fällt, dass trotz Erhebungen in Thüringen und in Tschechien der Thüringische Dialektatlas und der Sudetendeutsche Wortatlas nicht erwähnt werden. Ich vermisse auch ein Sachregister, das bei dem Detailreichtum des Textes als Wegweiser gute Dienste geleistet hätte. Von Vorteil wären auch Erläuterungen zum Aufbau der sehr komplexen Kartenkommentare, zu den Symbolisierungsprinzipien und zum Kartentyp „Lumpensammler“ (Kartenband 1, S. 55, 107, 108 usw.) gewesen (Weiteres s. u.).
Der großformatige Kartenband (ca. 43 x 41 cm) gliedert sich in ein Vorwort, Benutzungshinweise (ohne jegliche Überschrift und nicht im Inhaltsverzeichnis aufgeführt), ein Abkürzungsverzeichnis (fehlt ebenfalls im Inhaltsverzeichnis), zwölf Einleitungskarten (davon die Grundkarte auf dem vorderen, die nicht nummerierte physische Karte auf dem hinteren Vorsatzblatt), 167 Sprachkarten sowie einen vierteiligen Anhang. Die Einleitungskarten (Untersuchungsgebiet, konfessionelle Verhältnisse, Marktorte, Exploratorengebiete usw.) geben (meist) außersprachliche Informationen, die bei der Interpretation der Sprachkarten hilfreich sein können. Aus der Reihe fällt die bereits oben erwähnte Einleitungskarte E 6 „Mundartliche Aussprache der Ortsnamen“ (Kartenband 1, S. 7), die eine Sprachkarte ist.
Die nach dem Punkt-Symbol-Verfahren gestalteten Lautkarten behandeln die dialektalen Entsprechungen der mhd. Kurzvokalphoneme. Innerhalb einer historischen Bezugseinheit sind die Karten nach den Entwicklungsergebnissen oder der Distribution des Stammvokals geordnet. Die Kartenreihe beginnt mit dem Lemma, dessen Vokalentwicklung den Normalfall (= erhaltene Kürze) darstellt. Es folgen Karten mit Sonderentwicklungen (Dehnung, Hebung, Diphthongierung usw.), Entwicklungen bei Mehrsilblern, vor Liquid, Nasal usw. Jeder Kartengruppe ist ein kurzer Text vorangestellt, der die dokumentierten Entwicklungsmöglichkeiten des mhd. Kurzvokalphonems skizziert. Den Abschluss einer Kartenreihe bilden eine oder zwei „Lumpensammler“ (Kartenband 1, S. 55, 107, 108 usw.) genannte Kombinationskarten, die jeweils zwei bis vier Lemmata vereinigen und besondere Stammvokalentwicklungen in Teilarealen aufzeigen. Die Bezeichnung „Lumpensammler“ mutet freilich in einem wissenschaftlichen Atlaswerk ein wenig befremdlich an. Der SNOB publiziert noch weitere Kombinationskarten. Zu mhd. a gibt es eine Darstellung, die auf der Grundlage von zehn Wörtern die Diphthongierung vor Nasal quantitativ auswertet. Zwei Kombinationskarten zu mhd. u/ü visualisieren die sprachgeographische Alternanz von u und ü (entrundet: i) in Wörtern mit identischem Etymon (Brücke – Brucke usw.). Zwei Ergebniskarten am Ende des Sprachkartenteils präsentieren zusätzliche statistisch-quantitative Auswertungen. Die erste zeigt die Häufigkeitsverteilung von palatalem a für mhd. a in geschlossener Silbe auf der Basis von sieben Zweisilblern sowie die Verdumpfung von mhd. a zu dialektalem o am Beispiel von acht Wörtern. Die zweite Ergebniskarte thematisiert die quantitative Verteilung der Kürzen bzw. der Rückverkürzung an Hand von elf Einsilblern mit unterschiedlicher sprachhistorischer Grundlage. Im Atlasband gibt es noch weitere Kombinations-/Ergebniskarten (der SNOB trennt beide Typen terminologisch nicht genau), die als solche nicht ausgewiesen sind, z. B. Karte 44 reden/wetzen und 142 (Aus-)Guss, Luft, Bruch usw.
Konzeptionell aus dem Rahmen fallend und besonders hervorhebenswert ist das Kartenpaar I 160 (um-)sonst und I 161 „Nebenkarte zu sonst“. Die erste Karte verzeichnet nur die alten Varianten sinsd, sisd usw., sofern nicht die junge (standardnähere) Variante sunsd der einzige Beleg für einen Erhebungsort ist. Die zweite Karte hingegen dokumentiert ausschließlich die Arealdistribution der jungen Form (die teilweise auch als Zweitvariante neben der alten exploriert wurde). Der Kartenvergleich zeigt sehr schön das Voranschreiten der sprachlichen Neuerung bereits im Basisdialekt. Es ist schade, dass der SNOB (wie auch die anderen Teilatlanten des BSA) die anfangs erwogene zweidimensionale Ausrichtung nach dem Vorbild des Mittelrheinischen Sprachatlasses nicht verwirklicht hat (vgl. Einführung, S. 11). Das Kartenpaar I 160/I 161 ist ein schlagendes Beispiel dafür, wie lohnend die Kombination der diatopisch-horizontalen und der diastratisch-vertikalen Variationsdimension auch für die Dialekte Bayerns gewesen wäre.
Das durchgängige Punkt-Symbol-Verfahren des SNOB wird einmal durch eine andere Darstellungsmethode unterbrochen. Im Falle des Stichworts Schmalz wird der Punkt-Symbol-Karte eine Punkt-Originalform-Darstellung gegenübergestellt. Das Nebeneinander beider Karten ermöglicht es, die Vor- und Nachteile beider Kartierungsprinzipien im unmittelbaren Vergleich sehr anschaulich zu studieren.
Die Sprachkarten des SNOB setzen sich aus der lautgeographischen Information (Symbole in Schwarzdruck auf hellgrüner Grundkarte), der Legende und dem Kommentartext zusammen. Die Legende – rechts oben im Kartenfeld platziert – enthält neben dem Kartenstichwort die Symbolerklärung sowie gegebenenfalls zusätzliche Angaben, z. B. in I 34 Schatten zur unbetonten Silbe, in I 147 zündeln zur Heteronymik usw. Auf der unteren linken Hälfte des Kartenfeldes finden sich die zumeist sehr umfangreichen Kartenkommentare. Wenn der Platz auf dem Blatt nicht ausreicht, wird der Text im Anschluss an den Kartenteil fortgesetzt. Die Textüberhänge bilden den ersten Teil des Anhangs. Der zweite Teil verzeichnet eine Auswahl von Originalbelegen (s. u.), der dritte listet die zitierte Literatur auf und der vierte enthält Querverweise auf die entsprechenden Kartenlemmata anderer Sprachatlanten, wobei allerdings der DSA nicht berücksichtigt wird.
Der Atlasband vermittelt die Arealbefunde sehr umfassend und weit über das zu erwartende Maß hinaus. Priorität bei der Kartierungsarbeit hatte zweifellos das Prinzip der Ganzheitlichkeit und Vollständigkeit und weniger das der Anschaulichkeit. In der Karte I 93 Hose beispielsweise werden zwischen den Vokalen ō und ū sechs phonetische Zwischenstufen symbolisiert. Auf eine Lautklassenbildung wird überwiegend verzichtet. Ein weiteres Beispiel: Die Legende der Karte I 60 Erbse führt insgesamt 31 Symbole mit und ohne unterlegte Schraffur oder Rasterung auf. Hinzu kommen etliche Sonderzeichen für Zentralisierung, Rundung usw. In vielen Karten finden sich Isoglossen mit zusätzlicher Information. Die Ausführlichkeit der Sprachdatenpräsentation, das Kartieren selbst geringster Vokalabstufungen und sogar der Folgekonsonanz ist auf manchen Karten mit einem Mangel an optischer Klarheit erkauft. Man muss mitunter große Mühe aufwenden, um die verschiedenen Arealstrukturen zu erfassen (vgl. z. B. die bereits erwähnte Karte I 60 Erbse). Auf der anderen Seite wird der Atlasbenutzer durch phonetisch detailgenaue Karteneinträge entschädigt. Damit nicht genug – die lautgeographische Darstellung wird in zahlreichen Fällen durch formengeographische Ergänzungen erweitert, vgl. z. B. die Variation der Endung in den Karten I 71 dreckig und I 73 Knechte.
Das Kartierungsprinzip, bei dem kaum eine phonetische Kleinstdifferenz nicht zur Geltung kommt, gilt übertragen für die Kartenkommentare. Diese bieten eine frappierende Vielfalt an sprachlichen, aber teilweise auch außersprachlichen Informationen. Sachweltbezogene Anmerkungen findet man etwa in den Karten I 35 Sattel und I 110 Tore. Im Zentrum der Kommentierung stehen naturgemäß die sprachlichen Befunde. Einen breiten Raum nimmt die Nennung von Originalbelegen ein, aus denen sich zusätzlich der zweite Anhang rekrutiert. Dabei werden nicht nur in exemplarischer Weise die diatopischen Varianten des Kartenlemmas (manchmal mit zusätzlicher verbaler Spezifizierung) verzeichnet, sondern auch das notierte Zusatzmaterial. Karte I 45 beten beispielsweise gibt Belege für das Partizip II an, I 53 Fest führt Pluralvarianten und I 99 Knöpfe Diminutive auf. Auch Komposita und Heteronyme werden genannt (vgl. z. B. I 5 Latte). Des Weiteren enthalten die Kommentare Ausführungen zum Konsonantismus (vgl. z. B. I 4 Wasser), zum Sprossvokal (vgl. z. B. I 29 Mark), zum Genus (vgl. z. B. I 6 Asche) usw. Auch Verweise auf nicht publizierte Stichwörter mit Beschreibung der Lautdifferenzen zur kartierten Einheit sind im Kommentar zu finden. So wird etwa von Karte I 47 essen auf stechen verwiesen. Außerdem werden semantische (vgl. z. B. I 15 Nacht) und sprachgeschichtliche (vgl. z. B. I 53 Fest) Angaben gemacht. Bereits diese keinesfalls vollständige, stichwortartige Beschreibung des Kommentarteils vermag einen Eindruck davon zu vermitteln, welchen Reichtum an Information die Texte liefern. Man hat den Eindruck, die Atlasmacher wollten alles publizieren, was an Dialektmaterial erhoben wurde, kein Datum sollte unter den Tisch fallen. Dass bei einem solchen ehrgeizigen, groß dimensionierten Vorhaben hier und da ein Fehler unterläuft, ist verständlich, verzeihlich und nicht besonders hervorhebenswert.
Als Fazit ist zu konstatieren: Mit dem ersten Kartenband des SNOB liegt eine herausragende sprachgeographische Publikation vor, die sich in die anspruchsvolle Reihe der anderen BSA-Regionalteile ebenbürtig einfügt. Den Atlasmitarbeitern ist zu wünschen, dass sie das Projekt – fünf weitere Bände sind in Aussicht gestellt – zügig zu einem erfolgreichen Abschluss bringen mögen.
Literatur
Bellmann, Günter [u. a.]. 1994-2002. Mittelrheinischer Sprachatlas (MRhSA). 5 Bände. Tübingen: Max Niemeyer.Search in Google Scholar
Schwarz, Ernst. 1954-1958. Sudetendeutscher Wortatlas. Herausgegeben im Auftrage des Adalbert Stifter Vereins e. V., München. 3 Bände. München: Robert Lerche.Search in Google Scholar
Thüringischer Dialektatlas. 1961, 1965. Begr. u. bearb. v. Herman Hucke. 2 Lieferungen. (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur 17, 27). Berlin: Akademie-Verlag.Search in Google Scholar
© 2015, Georg Drenda, published by de Gruyter
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