Skip to content
Publicly Available Published by De Gruyter September 25, 2018

„Eine Einladung zur Zentralisierung“

Ein Gespräch mit Horst Zimmermann über die Entwicklung Deutschlands zum unitarischen Bundesstaat, den Finanzausgleich und die Zukunft Europas

  • Horst Zimmermann EMAIL logo

PWP: Herr Professor Zimmermann, Sie haben die These aufgestellt, die Tendenz zum unitarischen Bundesstaat habe sich in Deutschland über die Jahre immer weiter verstärkt[1]. Unitarischer Bundesstaat, das ist eine eher staatsrechtliche Begrifflichkeit. Was meinen Sie als Ökonom damit, und wie begründen Sie ihre Beobachtung?

Zimmermann: Ich mache meine These in der Tat an drei Tendenzen fest, die der Verfassungsrechtler Konrad Hesse seinerzeit als konstitutiv für den unitarischen Bundesstaat ausgemacht hat[2]. Mit denen kann man auch als Ökonom gut arbeiten, und sie sind bis heute gültig. Es geht um die Gegenüberstellung von föderativen und unitarischen Staaten. Der Begriff „unitarischer Bundesstaat“ ist insofern interessant, als er ein Zwischending zwischen diesen beiden Polen benennt. Deutschland ist zwar im Prinzip ein Föderalstaat, aber mit starker und zunehmender unitarischer Prägung. Zu den von Hesse genannten Tendenzen gehört erstens: Das Schwergewicht der staatlichen Aufgaben konzentriert sich zunehmend beim Bund. Zweitens, und das ist mir besonders wichtig, weil es sonst oft untergeht: Im Aufgabenbereich der Länder vollzieht sich eine ständige Selbstkoordinierung. Und drittens: Die spezifische politische Wirksamkeit der Länder verlagert sich zunehmend auf ihre Beteiligung an den Angelegenheiten des Bundes im Bundesrat. Sie entscheiden also nicht mehr so sehr auf ihrem eigenen Gebiet über ihre eigenen Angelegenheiten, sondern auf der höheren Ebene. Ich habe mir gedacht, man muss das auch einmal ökonomisch betrachten. Anlass dazu gab mir das „Gesetz zur Neuregelung des bundesstaatlichen Finanzausgleichssystems ab dem Jahr 2020“, das Bundespräsident Steinmeier „mit Bedenken“ am 14. August 2017 unterzeichnet hat.

PWP: Dass sich das Schwergewicht der staatlichen Aufgaben zunehmend beim Bund konzentriert, entspricht dem Popitzschen Gesetz von der „Anziehungskraft des Zentralstaates“[3], nicht wahr?

Zimmermann: Das ist genau das richtige Stichwort. In Deutschland ist dafür die konkurrierende Gesetzgebung nach Art. 72 GG ein Treiber gewesen. Ursprünglich nur für besonders gewichtige Fälle gedacht, ist sie inzwischen fast vollständig ausgeschöpft und hat dem Bund dabei einen großen Machtzuwachs gegeben. Auch hat der Bund neu aufkommende Aufgaben meist selbst übernommen. Demgegenüber ist die gesetzgeberische Aktivität der Länder auf ein Minimum geschrumpft. Gleichzeitig ist der Einfluss des Bundes auf die Verwaltung des Landes als vollziehender Gewalt der Bundesgesetze stark gestiegen.

PWP: War die Einräumung der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz ein Fehler? Man könnte sagen, darin sei die Anziehungskraft des Zentralstaates ja förmlich angelegt.

Zimmermann: Manche Politikwissenschaftler sind der Auffassung, dass das sogar von vornherein die Absicht gewesen ist. Schon im Jahr 1871, als das Deutsche Reich gegründet wurde, das grundsätzlich föderativ aufgebaut war, gab es ein großes Bemühen, den Ländern nicht wie in Amerika eine fast vollständige Freiheit zu geben. Es ist eine alte empirische Tradition in Deutschland, sehr stark auf Einheitlichkeit zu pochen. Insofern ist das, was 1949 in das Grundgesetz geschrieben worden ist, von vornherein sehr viel zentralistischer als das, was zum Beispiel die Amerikaner wollten. Aus ökonomischer Sicht waren die Amerikaner da auf dem richtigen Trip. Und die unitarische Tendenz hat sich eben noch verstärkt.

PWP: Sie beziehen sich wie gesagt auf das „Gesetz zur Neuregelung des bundesstaatlichen Finanzausgleichssystems ab dem Jahr 2020“. In den Debatten im Bundestag, die der ersten Einführung des Länderfinanzausgleichs seinerzeit vorausgingen, wurde der Wunsch der Länder sehr deutlich, sich gegenüber dem Bund möglichst viel Autonomie zu bewahren.

Zimmermann: Vielen Dank für diesen Hinweis auf die Entstehungsgeschichte, das stimmt. Die Einführung des Länderfinanzausgleichs lief damals über ein Bundesgesetz, aber es war eben keine vertikale, sondern eine horizontale Angelegenheit unter den Ländern. Und genau dieser „brüderliche Ansatz“ wurde mit dem letzten Reformgesetz 2017 abgeschafft.

PWP: Das ist eine dramatische Entwicklung, wenn man den Schritt zur Emanzipation der Länder in den fünfziger Jahren noch im Kopf hat.

Zimmermann: Allerdings. Das bisherige strikt horizontale Verfahren ist in aller Welt in dieser Form einmalig. Hinter dieser dramatischen neuen Entwicklung zu Lasten der Länder steht natürlich zum einen die Einladung zur Zentralisierung, wie sie auch in der konkurrierenden Gesetzgebung verankert ist. Zum anderen ist der vielleicht noch wichtigere Grundfehler aus dem Grundgesetz von 1949, dass bei uns der Bund tendenziell über viele Aufgaben verfügt, die Länder diese aber ausführen müssen. Das ist in anderen Föderalstaaten wie der Schweiz oder den Vereinigten Staaten der Ausnahmefall. Es gibt also nicht nur eine Aufgabenteilung, sondern innerhalb der Aufgaben eine Funktionsteilung. Wir haben insofern in Deutschland einen „funktionalen Föderalismus“, wie der Politikwissenschaftler Wolfgang Renzsch es nennt[4] – in Abgrenzung vom „dualen Föderalismus“ der Aufgabenteilung, den die ökonomische Literatur als Ausgangspunkt aller Betrachtungen nimmt. Ob wir den Klassiker von Oates (1972) oder das neue, tolle Buch von Boadway und Shaw (2009) zur Hand nehmen[5], stets ist der Ausgangspunkt ein dualer Föderalismus amerikanischer Prägung. Sie erwähnen nur irgendwo kurz, dass es auch den „kooperativen Föderalismus“ gebe – und das ist eben in Deutschland. Diese von Anfang an so in der Verfassung verankerte Regelung bedeutet, dass die Länder davon abhängig sind, was der Bund macht. Wenn man dann noch berücksichtigt, wie stark zuletzt die Sozialausgaben zugenommen haben, dann ist die Zunahme der Abhängigkeit im Laufe der Zeit evident. Das geht bis hinunter zu den Gemeinden, die an den Sozialausgaben ersticken und ihre selbstgewählten Aufgaben praktisch nicht mehr ausführen können.

PWP: Das passt zu der einen von Konrad Hesse beschriebenen Tendenz, der Verlagerung der politischen Wirksamkeit der Länder von der eigenen Gesetzgebung hin zur Mitwirkung im Bundesrat.

Zimmermann: Ja. Die Landesparlamente sind ja vom Grundsatz her eine bodenständige Einrichtung. Sie sollten das Herzstück der deutschen Demokratie sein. Was die Länder nicht machen, macht der Bund. So der Grundsatz. Demnach müsste alles Wesentliche auf Länderebene stattfinden. So ist es aber nicht. Es war nie viel, und es wird immer weniger. Ein Grund dafür ist, dass sich die politische Aufmerksamkeit auf das Agieren der Länder im Bundesrat verlagert hat: Wer stimmt mit wem gegen was? Es ist schon gut, dass die Länder auf Bundesebene etwas zu sagen haben. Aber dass das überhaupt notwendig ist, liegt an der speziellen deutschen Konstruktion. In den Vereinigten Staaten würde sich der Bund dergleichen verbitten. Und die amerikanischen Bundesstaaten brauchen das auch nicht, weil sie eben eigene Aufgaben und Finanzierungsquellen haben. Der Bund kann nur ergänzend über eigene Ausgabenprogramme etwas tun, wenn er beispielsweise den Eindruck hat, dass die Bundesstaaten nicht genug zum „Slum clearing“ unternehmen. Wobei das dann natürlich auch mit denen abgestimmt wird. In Deutschland jedenfalls ist es zu einer 1949 kaum vorhersehbaren Mehrung des Gewichts des Bundesrates gekommen. Eine sehr große Zahl von Gesetzen löst die Zustimmungspflicht des Bundesrates aus[6]. Dieser ist nicht, wie in den Vereinigten Staaten, eine zweite, gesondert gewählte Kammer mit eigenständigen Abgeordneten, sondern er ist ein Organ aus delegierten Mitgliedern der Landesregierungen. Theodor Heuss nannte ihn deshalb das „Parlament der Oberregierungsräte“. Dementsprechend sind seine Mitglieder nicht ihrem Gewissen unterworfen, sondern einem imperativen Mandat ihres Landes.

PWP: Sie hatten noch eine weitere Tendenz zum unitarischen Bundesstaat zitiert.

Zimmermann: Ja, die Tendenz zur Selbstkoordinierung der Länder. Sie lässt sich am Beispiel der regelmäßig tagenden Ministerkonferenzen für Kultur, Verkehr, Umwelt usw. verdeutlichen. Derzeit bestehen 18 Ministerkonferenzen. Manche davon sind sehr alt, wie die für Kultur und Bau; andere wie die für Verbraucherschutz und Integration sind neueren Datums. Das ist ein ungeheurer, unauffällig im Hintergrund ablaufender Prozess mit dem Ziel der Vereinheitlichung, auf dass niemand ausbrechen kann. Dieses immer weiter ausgebaute System hat fatale Konsequenzen für originelle Ideen im Landesparlament. Wenn ein Parlamentarier auf Landesebene einen vom Üblichen abweichenden Vorschlag macht, wird ihm entgegengehalten, ob er denn gegen die bundeseinheitliche Absprache der Ministerkonferenz vorgehen wolle. Dies ist der vielleicht stärkere Effekt in Richtung der Entleerung der Agenda der Landesparlamente im Vergleich zu der Bedeutung der formellen Gesetze, die dort weniger als früher beschlossen werden.

PWP: Mir scheint, diese Tendenz zur Zentralisierung hat sich über die Jahre auch in einem systematisch strategischen Verhalten der Länder niedergeschlagen, die sich jeden weiteren Autonomieentzug immer vom Bund haben kompensieren lassen.

Zimmermann: So ist es. Da musste der Bund schon vor der deutschen Wiedervereinigung immer mal wieder ein Pünktchen Umsatzsteuerbeteiligung nach unten abtreten, wenn er irgendeine Aufgabe nach oben gezogen hat. Eine solche Art der Bestechung, sozusagen das Esausche Linsengericht, beherrscht jede Zentrale. Die Zentrale denkt zentralistisch; dafür ist sie gemacht. Angesichts dessen müsste die Politik oder wenigstens das Bundesverfassungsgericht eigentlich auf mehr Dezentralität pochen. Aber wer tut das schon? Wenigstens Karlsruhe müsste einen „Verantwortungszwang“ auferlegen, damit die unteren Ebenen im deutschen Föderalstaat wieder eigene Aufgaben mit eigenen Einnahmen finanzieren und die damit verbundenen Effizienzreserven heben können. Aber das lässt sich so leider nicht beobachten.

PWP: Ist das nicht letztlich eine politische Entscheidung? Ist das wirklich Aufgabe des Verfassungsgerichts? Politisieren wir dessen Rolle nicht ohnehin schon zu sehr?

Zimmermann: Natürlich ist das letztlich eine politische Entscheidung, das stimmt. Es ginge um eine Grundsatzentscheidung über die politische Ordnung.

PWP: Das Bundesverfassungsgericht hatte sich Ende der neunziger Jahre ja durchaus schon einmal um ein Aufräumen im Finanzausgleich bemüht, und zwar mit der Aufforderung an den Bund, allgemeine Maßstäbe festzulegen, um die unbestimmten Begriffe im Steuerverteilungs- und Ausgleichssystem des Grundgesetzes zu konkretisieren. Das ergab dann das „Maßstäbegesetz“ von 2001. Allgemeine Maßstäbe sind grundsätzlich eine gute Idee, aber ein solcher Schleier des Nichtwissens lässt sich nicht so einfach neu weben. Jedes Land war damals natürlich in der Lage, hinter dem allgemeinen Prinzip seine sehr spezifische Betroffenheit davon zu ermitteln.

Zimmermann: Das hat nicht funktioniert. Wir sind in Deutschland weiter denn je vom dualen Föderalismus entfernt. Und wir haben da letztes Jahr noch eine ordentliche Schippe draufgelegt: Der Länderfinanzausgleich ist jetzt komplett weg, ersatzlos, aufgegangen in der Umsatzsteuervorabverteilung. Das ist eben mein Kummer. Das kam dadurch, dass formell kein Land im Länderfinanzausgleich verlieren durfte; und bei der Reform schon gar nicht. Das bekam man eben am schnellsten und einfachsten hin, indem man den Umverteilungsmechanismus ganz von der horizontalen auf die vertikale Achse verlegte. Damit jeder einverstanden sein konnte, hat der Bund gemäß der alten Praxis auch noch etwas draufgelegt.

PWP: Aber was ist denn mit den anderen Reformversuchen? Wir haben ja immer wieder Anläufe zu einer Reform unternommen, zuletzt mit den Föderalismuskommissionen. Warum hat das alles nichts gefruchtet? Warum kam es zu einem solchen radikalen Schnitt?

Zimmermann: Ich hatte sehr auf die Föderalismuskommissionen gehofft und bin kräftig enttäuscht. Sie hatten im Zusammenhang mit unserem Anliegen den gewaltigen Output, dass die Länder die Grunderwerbsteuer bekommen haben. Es sind sich wohl alle Ökonomen darin einig, dass das eine prinzipiell schlechte Steuer ist, und wenn die Länder auch noch ein eigenes Hebesatzrecht haben, ist sie ganz besonders schlecht. Zu klein ist sie sowieso. Und was machen die Länder? Sie heben die Sätze an, was dann am Immobilienmarkt die Preise weiter treibt. Eine komplette Fehlkonstruktion in jeder Hinsicht.

PWP: Und warum kreißten die Kommissionen und gebaren nur eine Maus?

Zimmermann: Weil das Hauptinstrument nicht durchsetzbar ist, das Hebesatzrecht der Gemeinden bei der Einkommensteuer. Das war im Grundgesetz schon angelegt, und es ließe sich auf dem Weg der einfachen Gesetzgebung einführen, und zwar zugleich auch für die Länderebene. Die technische Machbarkeit wurde schon in den neunziger Jahren nachgewiesen und sie würde durch die Digitalisierung der Prozesse in den Finanzämtern nochmals erleichtert[7]. Aber niemand will, keiner traut sich. Finanzkraftarme Länder haben Sorge, dann noch weiter nach unten gedrückt zu werden. Auch das Bundesfinanzministerium war grundsätzlich dagegen, dass in Deutschland regional unterschiedliche Einkommensteuersätze gelten.

PWP: Dann kommt wieder der Verweis auf die Einheitlichkeit oder Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse.

Zimmermann: Ja, die Einheitlichkeit oder Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse ist in Sachen Finanzausgleich in Deutschland seit jeher das Totschlagargument per se. Der Philosoph Hartmut Plessner hat die starke Gleichheitssehnsucht der Deutschen unter anderem darauf zurückgeführt, dass Deutschland eine „späte Nation“ sei[8]. Das 19. Jahrhundert war von dem Wunsch geprägt, dass aus der deutschen Kleinstaaterei endlich ein vereintes Deutschland werden solle. Am 12. Oktober 2017 war es 200 Jahre her, dass dies auf dem Wartburgfest gefordert wurde. Auch das nach 1945 über vier Jahrzehnte geteilte Deutschland mit dem Wunsch nach Wiedervereinigung hat dieses Gefühl sicherlich bestärkt. Das Ergebnis ist allerdings, dass in Deutschland regionale Unterschiede als schlecht angesehen werden. Das zeigt sich auch auf einem speziellen Gebiet der öffentlichen Finanzen, der Regionalisierung der öffentlichen Finanzströme. In den Vereinigten Staaten gibt es eine lange Tradition, für die einzelnen Bundesstaaten zu ermitteln, wie viel an Steuern an den Bund abfließt und wieviel von dort an Ausgaben auf das eigene Territorium entfällt. In Deutschland hat es solche auf die Länder bezogenen Studien zur Gesamtheit der öffentlichen Budgets in so umfassender Art nie gegeben. Die einzige Studie, die immerhin am Beispiel eines Bundeslandes für arme und reiche Regionen solche Salden von Zufluss und Abfluss ermittelt hat, stammt von 1975 und ist bisher nicht repliziert worden[9]. Zweifellos erhalten beispielsweise Hessen und Bayern deutlich weniger Bundesausgaben, als von dort an Steuern abgeführt wird, und das Umgekehrte gilt für Sachsen-Anhalt und Thüringen.

PWP: Was raten Sie denn in dieser Situation? Das klingt ja alles danach, dass das Kind schon längst in den Brunnen gefallen ist.

Zimmermann: In der Tat, und da lag es schon ziemlich früh; es ist im Laufe der Zeit nur noch immer tiefer gerutscht, von gelegentlichen kleinen Anhebungsversuchen abgesehen. Ein großer Wurf wird wohl nicht mehr kommen. Am funktionalen Föderalismus wird man nicht mehr viel ändern können. Was man jetzt noch machen kann, bedarf harter Detailarbeit. Man könnte sich unter dem Kriterium der Autonomie zum Beispiel die riesigen Sozialausgaben ansehen, die der Bund bestimmt und nur zum Teil finanziert. Da gilt es dringend, die Spielräume der Gemeinden auszuweiten. Die Kommunen können bisher ja oft nur aufstocken. Wobei sie immerhin mit Blick auf die Autonomie noch etwas besser dastehen als die Länder. Die Länder sind am schlechtesten dran.

PWP: Die Gemeinden standen Anfang der 2000er Jahre finanziell ziemlich schlecht da, aber jetzt geht es ihnen viel besser. Wobei sie über die Sozialausgaben klagen, die sie infolge der Migration zu leisten haben und die einen kommunalen Investitionsstau verursachen.

Zimmermann: Naja, wenn die Kommunen alle Investitionen vornähmen, die sie sich so vorstellen, dann wären sie inzwischen schon auf Hochglanz poliert. Und grundsätzlich sind die Gemeinden im Augenblick mit einem üppigen Steueraufkommen gesegnet, nicht anders als Bund und Länder auch. Sie haben ihre Nettokreditaufnahme entsprechend mächtig herunterfahren können. Aber es hapert eben nach wie vor an der Autonomie. Was die Sozialausgaben angeht, haben wir ganz grundsätzlich eine zentralisierende Tendenz, die vom wachsenden Sozialstaat ausgeht. Er führt zum einen zu einer Zentralisierung, weil diese Umverteilungspolitik auch aus dem Blickwinkel der ökonomischen Theorie des Föderalismus am ehesten über den Zentralstaat laufen sollte. Zum anderen führen seine Finanzströme zu erheblicher regionaler Umverteilung. Besonderes Gewicht haben hierfür die umfangreichen Sozialversicherungssysteme, in die reiche Regionen überproportional einzahlen und aus denen arme Regionen überproportional Zahlungen bzw. Leistungen erhalten. Die Kosten dieser regionalen Umverteilungsmaßnahmen, die Einkommen von den reichen in die armen Regionen lenken, lassen sich am entgangenen gesamtstaatlichen Wachstum messen. In einer neueren Studie wird geschätzt, dass die regional gezielten Maßnahmen, zum Beispiel des Länderfinanzausgleichs, das Realeinkommen pro Kopf dauerhaft um fast 6 Prozent senken[10].

PWP: Die Klagen der Kommunen hatten vor allem mit der Flüchtlingszuwanderung zu tun.

Zimmermann: Da haben die Kommunen enorm viel geleistet, und es gab ja dann auch Entlastung aus Berlin. Im Übrigen will ich nicht sagen, dass der Unterschied zwischen armen und reichen Kommunen kein Problem sei. Eine Stadt wie Eschborn, in unmittelbarer Nähe zu Frankfurt, hat niedrige Gewerbesteuersätze und trotzdem Einnahmen bis zur Halskrause. Ein bleibendes Problem hingegen sind Kommunen, die strukturell besondere Lasten zu tragen haben. Ich denke an die Ruhrgebietsstädte wie Dortmund und Duisburg, die mehrheitlich eine Bevölkerung mit Migrationshintergrund haben. Es handelt sich vorwiegend um Menschen aus EU-Staaten wie Rumänien, die im Zuge der sogenannten Kettenwanderung – einer kommt und zieht andere nach – Enklaven bilden, die für die Gemeinde enorm teuer sind. In den Vereinigten Staaten, die in dieser Hinsicht die Vorläufer sind, würde man einer solchen finanzkraftschwachen Kommune abverlangen, sich selber zu helfen. Dazu gehört unter anderem eine wirtschaftsfreundliche Einstellung, und die ist in Deutschland schon immer regional ungleich verteilt gewesen, man denke nur an Baden-Württemberg im Vergleich zu Nordrhein-Westfalen. Der kommunale Finanzausgleich mit Umverteilungsraten von bis zu 100 Prozent und manchmal mehr trägt das Seine dazu bei, die deutsche Sehnsucht nach Gleichheit zu befriedigen. Er hilft den schwächeren Gemeinden mächtig, aber er löst kein Problem an der Wurzel.

PWP: Zumal die stärkeren Gemeinden nicht glücklich sein können über den Abfluss an Mitteln.

Zimmermann: Genau das ist das Problem. Ich habe mich einmal gefragt, wie wirtschaftsstark eigentlich eine Stadt oder Region sein muss, um den Nettoabfluss zu tragen, der sich aus einfließenden Ausgaben von Land und Bund und den abfließenden Einnahmen an Land und Bund ergibt. In der zuvor erwähnten Studie findet sich diese Zahlungsverteilung aufgrund schon etwas älterer Daten von 1975 für Ludwigshafen, Mainz und die Region Trier. Pro Kopf der Bevölkerung kam die Region Trier auf einen rechnerischen Netto-Zufluss von 1.044 DM, Ludwigshafen hingegen auf einen Netto-Abfluss von 2.626 DM und Mainz auf einen Netto-Abfluss von 564 DM. Lange war ich ein Freund der neoklassischen Konvergenztheorie der Regionalwirtschaftslehre, nach der man davon ausgeht, dass sich die Unterschiede zwischen den Regionen allmählich abbauen. In den Ballungsräumen gibt es hohe Löhne, hohe Mieten usw., anders als in den leereren und entlegeneren Regionen. Die Produktivkräfte wandern dahin, wo es relativ günstiger ist, und das wirkt einer Agglomerationstendenz entgegen. Paul Krugman indes hat gezeigt, dass die Agglomeration ein natürlicher, sich selbst verstärkender Prozess ist – zwar nicht unendlich, aber doch bedeutend. Das heißt, die Divergenz verstärkt sich, statt zu verschwinden. Und nicht nur in Deutschland sind diese modernen Agglomerationszentren der Ort, wo das wirtschaftliche Wachstum und Innovationen entstehen. Also muss ich sie pflegen. Ich muss sie stärken, nicht schwächen. Regionalpolitik darf nicht dazu dienen, ihren Vorsprung einzuebnen. Ich darf ihnen auch nicht zu viel aufbürden und abverlangen. Ein starkes Ausgleichssystem nimmt wichtige Anreize weg. Das darf nicht sein.

PWP: Kann eine Agglomeration auch einmal zu groß werden?

Zimmermann: Gewiss, natürlich, aber davon sind wir in Deutschland noch meilenweit entfernt. Auch Städte wie London und Paris sind zwar sehr groß, aber sie sind zugleich die Wachstumszentren ihrer Länder; Berlin ist im Vergleich dazu geradezu klein.

PWP: Umgekehrt gefragt, was sollten wir denn mit den entlegenen, vergleichsweise entvölkerten und entsprechend wirtschaftsschwachen Gebieten vor allem im Osten Deutschlands machen?

Zimmermann: Ich wäre da für ein erhebliches Maß an passiver Sanierung, statt auf Dauer Armut zu subventionieren. Es geht nicht an, noch die letzten kleinen Provinzstädtchen der ehemaligen DDR mit einer großartigen Straßeninfrastruktur zu erschließen. Das ist Geldverschwendung. Man muss Schrumpfung ertragen und nur in Härtefällen befristet den Wandel abpuffern. Was nach der notwendigen Abwanderung dann übrig bleibt, muss sich umstrukturieren und wirtschaftsfreundlich aufstellen. Dieser Prozess ist leider viel zu langsam gegangen. Aber das Problem im Osten Deutschlands ist natürlich auch, dass die Bevölkerung dort aufgrund ihrer Sozialisation lange Zeit nicht wirklich unternehmerisch gedacht hat. Das ist das Erbe von vier Jahrzehnten Sozialismus. Eine entsprechende Einstellung muss erst wachsen, und das braucht Zeit.

PWP: Sie müssten eigentlich ein Fan des Schweizer Systems sein.

Zimmermann: Bin ich auch. Das Schweizer System ist von unten gedacht. Als erstes Element gehört dazu, dass die drei Gebietskörperschaftsebenen ziemlich gleichrangig sind. Die obere, der Bund, wird im Vergleich zu Deutschland eher schwach gehalten. Die Kraft liegt bei den Kantonen und bei den Gemeinden, die über eigene, getrennte Einkommensteuer-Hebesätze verfügen. Wer meint, mit niedrigen Einkommensteuersätzen Leute anlocken zu wollen, kann das tun. Als zweites Element gibt es die direkte Demokratie, die Kostentransparenz bringt. Wenn eine Gemeinde ein neues Stadion zu bauen plant, stimmen die Bürger darüber ab, ob sie dafür soundso viele Prozentpunkte mehr an Steuern zahlen wollen. Dieses jeweils mit einer konkreten Rechnung bewehrte Vorschlags- und Entscheidungswesen auf der kommunalen Ebene ist etwas, was ich mir auch für Deutschland wünschen würde. Allerdings würde das vor allem dort funktionieren, weniger auf den höheren Gebietskörperschaftsebenen.

PWP: Das setzt aber eben ein eigenes Hebesatzrecht voraus.

Zimmermann: Richtig. Und das wäre im Übrigen auch aus Transparenzgründen wirklich eine nützliche Sache. Heute hat doch niemand eine Ahnung, ob seine Gemeinde von der Einkommensteuer, die er zahlt, etwas abbekommt, geschweige denn wieviel Geld seine Gemeinde insgesamt aus dem allgemeinen Einkommensteueraufkommen zugeteilt bekommt. Diese Information könnten die Finanzämter dem Steuerzahler leicht zur Verfügung stellen, indem sie am Ende des Bescheides aufführten, wieviel von der Summe der Bund, das Land und seine Gemeinde erhält, und das bitte in eindrucksvollen Euro und nicht in abstrakten Prozent. Das wäre nur eine Kleinigkeit, die aber immerhin ein Kostenbewusstsein unter den Bürgern schüfe. Nur wollen gerade das im Allgemeinen die Bürgermeister (und vielleicht auch die Ministerpräsidenten?) nicht, weil damit der Rechtfertigungsdruck steigt. Der Bürger könnte ja fragen: „Was macht Ihr eigentlich mit meinem Geld?“

PWP: Das ist allerdings genau der Punkt.

Zimmermann: Als Hintergrund zu dem Ganzen kommt hinzu, dass das Verteilungs- und das Wachstumsziel auch auf Gemeindeebene unterschiedliche Besonderheiten haben. Mit Blick auf das Verteilungsziel lässt sich immer einigermaßen genau angeben, wieviel Geld einer bestimmten Gruppe fehlt, und die Lücke lässt sich durch Transfers nachweislich beheben. Daher zielen Wahlversprechen vor allem auf Gerechtigkeitsziele. Mit dem Wachstumsziel ist es schwieriger. Um das wirtschaftliche Wachstum anzukurbeln, müssen die Politiker die Steuern senken, eine bessere Wirtschaftsförderung betreiben und möglicherweise die Neuansiedlung von Unternehmen unterstützen. Und selbst wenn das alles funktioniert, dauert es noch eine Weile, bis sich der Effekt nachweisen lässt. Es ist nicht so einfach, zu quantifizieren, was da was bewirkt.

PWP: Zumal Sie kein Counterfactual haben. Sie wissen nicht, wie es mit der Wirtschaft weitergegangen wäre, wenn diese Maßnahmen ausgeblieben wären.

Zimmermann: Stimmt. Es kommt äußerst selten vor, dass sich ein Wachstumsschub eindeutig einer politischen Maßnahme oder einem solchen Paket zurechnen lässt. Wir wissen alle, dass die Agenda 2010 mit den Hartz-Reformen, ausgerechnet von einem sozialdemokratischen Bundeskanzler auf den Weg gebracht, einen solchen Schub ausgelöst hat. Das ist klar.

PWP: Davon profitiert bis heute nicht zuletzt auch der Bundesfinanzminister, dem wieder ordentlich Steuereinnahmen ins Haus kommen.

Zimmermann: Und zum Glück haben wir die Schuldenbremse. Sie hat für Disziplin gesorgt. Sie eingeführt zu haben, war die große Leistung der zweiten Großen Koalition. Sie hat das deutsche Finanzsystem dauerhaft stabilisiert. Und dass die Schuldenbremse nun sogar detailliert in der Verfassung steht, wo sie nach Meinung einiger Rechtsgelehrter nicht hingehört, stört mich gar nicht. So kann man sie wenigstens nicht so leicht wieder abschaffen.

PWP: Bei derart üppigen Steuereinnahmen und entspannter Haushaltslage wäre aber nun doch bald mal wieder die Zeit für Steuersenkungen reif, oder?

Zimmermann: Ja, und da bin ich tendenziell ganz bei der FDP. Insbesondere mit Blick auf die Unternehmenssteuern ist bei uns noch einiges zu tun. Das ist unabdingbar für langfristige Wachstumswirkungen. Übrigens erhoffe ich mir da auch einiges von unserem neuen Bundesfinanzminister Olaf Scholz. Er hat Hamburg vernünftig regiert, und es ist zu erwarten, dass er auch seine Berliner Aufgabe mit einer gewissen Weisheit ausüben wird. In seiner Verantwortung liegt es auch, wie zuvor bei Wolfgang Schäuble, zu verhindern, dass die Reformen, die in Europa und vor allem in der Eurozone ins Auge gefasst werden, nicht zu sehr auf deutschen Zahlungen aufgebaut sind. Und da ist ja einiges zu tun. Europa ist eine Riesenbaustelle. Das beginnt schon mit der anstehenden und kontrovers diskutierten Reform der Einlagensicherung.

PWP: Wie stehen Sie dazu?

Zimmermann: Die Einlagensicherung ist bisher noch in nationaler Verantwortung. In Deutschland haben wir unterschiedliche Systeme und Töpfe – für die Sparkassen, die Volksbanken, die privaten Banken. Das auf europäischer Ebene zu vergemeinschaften, würde mit Sicherheit bedeuten, dass bei uns eingezahlt und woanders ausgezahlt würde. Das wäre das alte Muster: Deutschland als gut sortiertes Land, als gutes Risiko, muss wieder Haftungszusagen an die weniger solide aufgestellten Länder geben. Auch unter Anreizgesichtspunkten ist das einfach falsch.

PWP: Kann man nicht argumentieren, dass eine Vergemeinschaftung deshalb sinnvoll ist, weil es uns in Deutschland aufgrund der systemischen Verkettungen durchaus etwas angeht, wenn in den Ländern, in denen die Risiken schlechter sind, etwas schiefläuft?

Zimmermann: Das ist natürlich grundsätzlich so. Aber die Einlagensicherung ist eigentlich für einen großen, ein ganzes Land erfassenden Krisenfall gar nicht gedacht. Wenn durch einen Bank Run ein überproportionales Problem entsteht, ist der ESM gefragt. Und der ist ein wirklich gutes Instrument, das würde ich auch so beibehalten.

PWP: Was halten Sie denn von den Reformvorstellungen des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron und dem, was er mit Bundeskanzlerin Angela Merkel im Juni auf Schloss Meseberg als Vorschläge für die EU vereinbart hat?

Zimmermann: Macron ist ja vernünftig. Ich fand es allerdings von der Bundesregierung taktisch ziemlich unklug, gleich zum Auftakt der neuen Legislaturperiode zu erklären, man sei zu höheren Zahlungen bereit. Auch inhaltlich sind die Pläne problematisch. Die EU sollte ihr Budget knapp halten und eher kürzen, als es noch aufzustocken. Ob die EU eine eigene Einnahmequelle haben sollte, hängt davon ab, ob sie wirklich schon ein Bundesstaat ist, bei dem man Brüssel und Straßburg als die bundesähnliche Ebene akzeptiert. Das habe ich schon vor einigen Jahren als nicht gegeben empfunden und empfinde es heute immer noch als verfrüht, dort voranzugehen. Wenn ich mir die jüngsten Wahlergebnisse in Polen, Ungarn, der Tschechischen Republik, aber auch in Frankreich und Italien ansehe, dann bestärkt mich das in meiner Skepsis, und das auf absehbare Zeit. Ich wünsche mir nicht mehr, sondern weniger Kompetenzen für die Europäische Kommission oder das Europäische Parlament. Auch einen europäischen Finanzminister brauchen wir nicht, schon gar nicht mit einer Ausstrahlung in die Mitgliedstaaten, wie wir das vom Bundesfinanzminister und den Ländern kennen. Eher könnte man überlegen, gemeinsam noch mehr in grenzüberschreitende Infrastrukturvorhaben zu stecken. Ich bin in dieser Hinsicht eher ein bedächtiger Europäer.

Horst Zimmermann wurde von Wonge Bergmann fotografiert, Karen Horn von Beatríz Barragán.

Zur Person

Staat und Region

Horst Zimmermann

Die Finanzwissenschaft ist ein auf den ersten Blick eher trockenes Gebiet der Volkswirtschaftslehre. Sie ist ein direktes Überbleibsel der klassischen Staatswissenschaften. Man beschäftigt sich mit den Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand, mit den Tarifverläufen und der Wirkung diverser Steuern, mit den verschiedenen Arten und Folgen der öffentlichen Verschuldung. Hier ist eine gute Kenntnis von geltendem Recht und Verwaltungspraxis gefragt. Gleichzeitig ist die Finanzwissenschaft immer unmittelbar politisch relevant – und das macht das Fach spannend. Stets ist man mit der Frage konfrontiert, was die Regierung falsch oder richtig macht, was gut läuft oder der Änderung bedarf.

Horst Zimmermann, geboren 1934 in Krefeld, hatte seit 1969 und bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2000 den Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insb. Finanzwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg inne. Er war schon immer in der Lage, seiner Disziplin ihren zunächst ein wenig spröde daherkommenden Charme zu entlocken und andere dafür mit viel Geduld empfänglich zu machen. Eine verlässliche, solide Größe in der deutschen Finanzwissenschaft, hat er mit dem Standardwerk, das er gemeinsam mit Klaus-Dirk Henke 1975 erstmals veröffentlicht hat, das Denken etlicher Generationen an Studenten strukturiert und geprägt. Mittlerweile haben die beiden Autoren noch Michael Broer als Dritten im Bunde hinzugewonnen und das in mehrere Fremdsprachen übersetzte Buch in 12. Auflage herausgebracht, nunmehr beherzt gestrafft, theoretisch modernisiert und um ein aktuelles Europa-Kapitel erweitert. Auch ein Lehrbuch zu den Kommunalfinanzen hat Zimmermann verfasst; es ist 1999 erstmals erschienen und nunmehr in dritter Auflage auf dem Markt.

Horst Zimmermann hat in Köln, München und Evanston (Illinois) studiert. An der Universität Köln schrieb er dann auch bei Günter Schmölders seine Doktorarbeit über Maßstäbe zur Ausgestaltung öffentlicher Finanzhilfen an Entwicklungsländer. Schon hier erkennt man das wissenschaftliche Hauptthema, dem Zimmermann seine gesamte weitere Laufbahn über treu blieb: die regionale wirtschaftliche Wirkung öffentlicher Ausgaben. Es verbindet Finanzwissenschaft, Wachstums- und Entwicklungstheorie sowie Raumwirtschaftslehre. Es folgten ein Forschungsaufenthalt an der University of Pennsylvania in Pittsburgh und 1968 dann die Habilitation. In seiner Habilitationsschrift

untersuchte er die regionale wirtschaftliche Wirkung öffentlicher Ausgaben am Beispiel der Anschaffungen der Bundeswehr. „Dafür habe ich in schier unendlich langen Sitzungen gut 13.000 Lochkarten der Bundeswehr nach Postleitzahlen sortiert und ausgewertet“, erzählt Zimmermann.

Der Ruf nach Marburg schloss sich unmittelbar an die Habilitation an; spätere Rufe nach Stuttgart-Hohenheim und Kiel lehnte er ab. Diese ausgeprägte Sesshaftigkeit in der schmucken hessischen Universitätsstadt war freilich von zahlreichen Auslandsreisen flankiert: Forschungsaufenthalte führten ihn mehrfach nach Washington, an die Brookings Institution und das Urban Institute; nach Cambridge und nach Tokio. Von der Toyo University in Tokio erhielt er 1997 ein Ehrendoktorat. Nach seiner Emeritierung machte er sich dann außerdem noch von 2004 bis 2011 mit der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) als Berater der ukrainischen Regierung um deren Finanz- und Verwaltungsreform verdient.

Der staatswissenschaftlichen Natur und Ausrichtung der Finanzwissenschaft entsprechend, ist Horst Zimmermann die Regierungsberatung überaus wichtig. Er war Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung, im Sachverständigenrat für Umweltfragen, im wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung zu globalen Umweltveränderungen sowie im Beirat für Raumordnung, der im Bundesverkehrsministerium angesiedelt war. Seit 1986 ist er Mitglied im wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium der Finanzen – und dort „nach wie vor sehr aktiv engagiert“, wie der heute 84-Jährige mit einem gewissen Stolz berichtet.

Horst Zimmermann hat sich auch immer schon mit großem Engagement in die aktuelle Diskussion eingebracht, ob es um die Finanz-, Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise ging, um Tarifeinheit und die Zunahme von Spartengewerkschaften oder um die Hauptstadtverlagerung von Bonn nach Berlin. Ein Thema indes, das ihn wie wohl alle Finanzwissenschaftler immer wieder beschäftigt und umgetrieben hat, hat die Bundesregierung im vergangenen Jahr begraben: die Reform des Länderfinanzausgleichs. Der Mechanismus ist abgeschafft – und Deutschland, wie Zimmermann mit großer Sorge feststellt, ist einen wesentlichen Schritt weiter gekommen auf dem Weg zum unitarischen Bundesstaat. Für seine akademische Arbeit erhielt er 1974 den August-Lösch-Preis; seine Politikberatung brachte ihm 1993 das Bundesverdienstkreuz am Bande und 2004 das Bundesverdienstkreuz erster Klasse. (orn.)

Online erschienen: 2018-09-25
Erschienen im Druck: 2018-09-28

© 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 28.3.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/pwp-2018-0022/html
Scroll to top button